Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North
hier geleistet haben«, sagte sie. »Sie haben diesen Ort schön gemacht.«
Eigentlich fühle ich mich nie jemandem unterlegen, aber in diesem Moment begann sich etwas in mir unterwürfig zu winden. Ich war mir meines Geruchs bewusst und meiner schmutzigen, zerrissenen Kleidung und der Erde an meinen Händen und unter
meinen Nägeln – und da war sie, sauber von Kopf bis Fuß und süßer als ein Zweig Apfelblüten.
»Denke, es war die Sache wert«, murmelte ich.
So standen wir eine Weile da, sie mit einer Million Fragen, von denen sie nicht wusste, wie sie sie stellen sollte, und ich mit dem verzweifelten Wunsch, die Äste weiter zu beschneiden – denn ich konnte es nicht allzu lang ertragen, das anzustarren, was ich hätte sein können, und im Boden zu versinken vor Scham über das, was aus mir geworden war.
Ich senkte den Blick und sah, wie sich die langen braunen Zehen ihrer nackten Füße ins Gras krallten.
»Noch einmal vielen Dank«, sagte sie schließlich, und ging wieder hinein.
Am nächsten Morgen weigerte ich mich, aufzustehen. Man hatte Gefangene schon für weniger ausgepeitscht, aber ich sagte den Wachen, ich hätte schlimme Monatsblutungen, und das brachte sie dazu, mich in Ruhe zu lassen.
Nach dem Mittagessen ging ich in den Stall, und als Abelman mich abholen kam, sagte ich, ich würde nicht mehr in diesem Garten arbeiten und es sei mir völlig egal, was sie mit mir machten. Er redete eine Weile auf mich ein, aber ich wollte nichts hören, also ging er ein paar andere Wachen holen, und sie drehten mir die Arme auf den Rücken und warfen mich
in eine Zelle. Ich schlug ein paar Minuten gegen die Tür, doch dann wurde ich müde und schlief ein.
Es kam immer mal wieder vor, dass ein Gefangener vom Wahnsinn befallen wurde und sie ihn einsperrten und schlugen, bis er wieder bei Sinnen war. Keine Ahnung, was in mich gefahren war, aber beinahe freute ich mich auf diese Prozedur. Doch als sich schließlich die Tür öffnete, kam nur Boathwaite herein.
Er befahl der Wache, mir auf die Beine zu helfen, und bedeutete mir dann, ihm zu folgen. Er ging ziemlich breitbeinig, wie ein Cowboy.
Ich trottete ihm zu einem zweistöckigen Gebäude auf der anderen Seite des Appellplatzes nach, dessen Fenster noch überwiegend ihr Glas hatten. »Das hier war einmal ein Militärstützpunkt«, sagte er. »Aber das hast du bestimmt gewusst.«
Sein Büro war im zweiten Stock. Dort stand ein großer Schreibtisch, und an der Wand dahinter hing eine Landkarte, die mich sofort in ihren Bann zog. Es war eine alte Karte wie jene, die wir in der Schule hatten, mit dem westlichen Zipfel Alaskas rechts oben in der Ecke, darunter Kamtschatka und die Kurilen, dann die große Landmasse Asiens, die nach Westen zum Ural lief, und dahinter Europa. Das Antlitz der Welt, das einmal so fest und unveränderlich wie der Mond gewirkt haben musste. Mit blauer
Tinte war der Weg verzeichnet, den wir marschiert waren. Offenbar waren wir nicht die ersten Gefangenen, die diese Reise gemacht hatten. Auch an anderen Stellen der Karte waren Markierungen, Orte weit im Norden, dazu Symbole, die zu klein waren, um sie zu entziffern.
Rechts und links an den Wänden hingen ein tscherkessischer Teppich und ein Bärenfell, und auf Boathwaites Schreibtisch lag ein khinzal , ein Kosakenmesser.
Er bot mir eine Zigarette an, und als ich ablehnte, steckte er sich selbst eine an. Ihr Geruch war zedernartig, wie Pfeifentabak. Vom vielen Rauchen hatte Boathwaite einen braunen Fleck am Finger.
»Meine Frau ist sehr glücklich, wie der Garten geworden ist«, sagte er. »Sie wird es bedauern, wenn du nicht weiterarbeiten willst.«
»Das ist Pech«, erwiderte ich, »denn mir ist die Lust daran völlig vergangen.«
Und so hieß es wieder normale Arbeit mit den anderen Gefangen. Natürlich vermisste ich den Garten, und manchmal, nachts, wenn sich alle in ihre verlausten Betten legten und einschliefen, stellte ich ihn mir vor: die Pflanzen so, wie ich sie zuletzt gesehen hatte, die harten gelben Quitten, die ich zum Mulchen genommen hatte, die feuchte Kühle des Rasens
nach dem Regen … Die anderen hätten mich für verrückt gehalten, hätte ich ihnen erzählt, was ich aufgegeben hatte. Aber ich war froh, nie wieder dorthin zurück zu müssen.
Denn als ich dieser Frau gegenübergestanden war, hatte ich mich wie ein Bettler gefühlt, der ihr für etwas Kleingeld und ein Dankeschön die Tür eines Restaurants aufhielt. Ich konnte die Vorstellung nicht
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