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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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sagenumwobene Stadt in Asien mit Minaretten und Mosaikbogen.
    Was es mit einem anstellte, war jedoch alles andere als schön. Es tötete die Menschen, aber es tötete auch, wovon sie lebten. Es ließ Wunden auf der Haut aufbrechen und fraß sich in die Lunge. Es war ein
Lebewesen, nur viel einfacher als wir, mit seinem eigenen, unersättlichen Appetit auf Leben. Man fragt sich wirklich, an welchem Tag ein liebender Gott etwas Derartiges geschaffen hat.
    Tolya sagte, dass die Sporen dieses Gifts im Schutt von Polyn 66 überdauert hatten und dass wir nur dank Apofagato davon wussten – Apofagato war früher Wissenschaftler gewesen, und seine Familie hatte hier gelebt. Er kannte sich aus mit der Struktur der Stadt, und genau aus diesem Grund hatte ihn Boathwaite zu sich geholt.
    Ich fragte mich, ob Apofagato wohl genauso in den Norden geflohen war wie Shamsudin. Er war also auch einer jener »Wissenden«, nur hatte er Glück gehabt, jemandem zu begegnen, der den Wert dieses Wissens erkannt hatte. Anhand seiner Instruktionen förderten die Gefangenen gerade zutage, was uns irgendwann einmal wieder ein angenehmes und sicheres Leben verschaffen sollte.
    Darauf wollten die Männer anstoßen, aber Tolyas Miene wurde ernst, und er kam zum eigentlichen Kern seiner Ansprache: Obwohl wir brauchten, was die Gefangenen dort in Polyn 66 fanden, konnten wir es nicht zulassen, dass sie die Zone je wieder verließen. Das gefiel ihm so wenig wie uns, aber so war es nun einmal. Der Ort war vergiftet, und das Gift musste eingesperrt bleiben.

    Die Männer hörten ihm aufmerksam zu, und als er fertig war, platzten sie mit ihren Fragen heraus – nach dem Gift in der Zone und den Dingen, die wir von dort mitnahmen, und wie man das, was man aus der Zone mitbrachte, sauber bekam.
    Tolya beantwortete ihre Fragen und dann sagte er, dass wir das Richtige taten und dass die Gefangenen ihr Leben für eine gute Sache gaben, und seine Worte erinnerten mich an die seltsamen Mitteilungen des Allmächtigen, die früher zu Hause unser gemeinsames Schweigen unterbrochen hatten. Vielleicht bin ich allzu einfach gestrickt, doch in meinen Ohren klangen sie so hohl wie ein Stein, den man auf eine leere Kaffeedose wirft.
    Aber hatte sich die Welt nicht auf einige einfache Tatsachen reduziert? Und kamen die Leute nicht viel besser zurecht, je einfacher sie waren? Mein Vater sprach sechs Sprachen, aber er konnte keinen Nagel gerade einschlagen. Er erörterte Rechtsfragen mit Präsidenten und Regierungen, als es solche Dinge noch gab, er handelte die Verträge aus, in denen uns das Land hier überantwortet wurde, ja, er hatte pfundweise Wörter auf Lager, um seine Vision vom Leben weit im Norden zu verkünden – aber er konnte nicht einmal die Faust ballen, als die Zeit kam, dieses Leben zu verteidigen. Er sprach unablässig davon, Gutes zu tun, aber ich glaube nicht, dass das
Gute, das er tat, auch nur einen Penny wert war. Es braucht keine Worte, um Gutes zu tun.
    Wie Tolya redete, erinnerte mich allzu sehr daran, wie mein Vater geredet hatte. Wo mein Vater Gottes Werk gesehen hatte, hatte ich das Glitzern der Sonne auf dem Eis oder zwei blaue Eier in einem Nest gesehen. Und wo Tolya in uns heilige Männer sah, die die verlorenen Juwelen menschlichen Wissens bewahrten, sah ich lediglich einen Haufen Diebe, die sich anschickten, ihre Gefährten zu erschießen.
     
    Irgendwann nach Mitternacht wachte ich durstig auf. Der Mond war groß und bleich wie ein Entenei und so hell, dass ich die Augen zusammenkneifen musste, während ich nach der Wasserflasche griff. Leider war das Wasser darin gefroren, also steckte ich mir eine Handvoll Schnee in den Mund.
    Dann blickte ich auf die schlafenden Männer in der Dunkelheit und beschloss, dass sich unsere Wege hier und jetzt trennen würden. Ihr könnt eure neue Welt ohne mich bauen, dachte ich. Noch vor August werde ich in meiner Hütte am See sein und mir einen Jagdhund zulegen und Moltebeeren sammeln und Ackerbohnen pflanzen. Es gibt viel schlimmere Dinge als ein Leben allein.
    Ich rüttelte den Tungusenjungen an der Schulter. Er wachte ganz leise auf, wie ein vorsichtiger Waldbewohner,
und ich gab ihm den Deckel einer der Fleischkonserven, damit er seine Fesseln durchschneiden konnte.
    Dann schlich ich zu Osip, nahm sein Gewehr und legte ihm dafür meines hin. Dem rostigen alten Ding wollte ich mein Leben nicht länger anvertrauen. Osip murmelte irgendetwas, aber der Schnaps in ihm verhinderte, dass er

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