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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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aufwachte.
    Inzwischen hatte sich der Junge befreit. Ich reichte ihm die Zügel meines Pferdes und deutete auf den Weg, den wir gekommen waren. Wenn er schlau war, würde er sich an den ausgetretenen Pfad halten und keine Spuren hinterlassen. Er schwang sich in den Sattel und verschwand, ohne mir auch nur einen Blick zuzuwerfen.
    Ich packte meine Sachen zusammen, steckte noch das Fernglas dazu und machte dann Tolyas Pferd los, das das Schnellste von allen war – als plötzlich von den Betonufern des Flusses schallendes Hufeklappern ertönte. Ich hatte gehofft, der Junge würde den tieferen Schnee nutzen, um die Geräusche zu dämpfen, aber offenbar hatte seine Ungeduld die Oberhand gewonnen.
    Noch weckte der Lärm keinen der Männer auf, doch er machte die Stute so nervös, dass sie mich nicht aufsitzen ließ. Verzweifelt versuchte ich, sie zu beruhigen und in die entsprechende Richtung zu
schieben. Aber es half nichts, ganz im Gegenteil: Die Stute stieß ein Wiehern aus – und die Männer öffneten ihre müden Augen.
    Als ich dann endlich im Sattel saß, hatte ich meinen Vorsprung verspielt. Ich sah, wie die Männer nach ihren Waffen griffen und dachte nicht lange über das nach, was ich als Nächstes tat. Es war wie in diesem Bruchteil einer Sekunde, bevor man zieht, in dem all die Jahre des Trainings die Kontrolle übernehmen, und dann ist die Waffe in deiner Hand und raucht schon, ehe der Verstand es mitkriegt. Sollte logisches Denken dabei irgendeine Rolle gespielt haben, dann hatte ich wohl zwischen zwei Möglichkeiten abgewogen: es auf den Versuch ankommen zu lassen, sie auf einer Strecke abzuhängen, die sie besser kannten als ich, oder eine Richtung einzuschlagen, in die sie mir nie folgen würden.
    Ich hielt auf die Straßensperre zu, vorbei an den Stacheldrahtrollen, und dann trat ich die Stute in die Flanken, und sie legte die Ohren an, und wir galoppierten geradewegs in die Zone hinein. Der Mond war so hell, dass wir ein deutliches Ziel abgaben, also drückte ich mich so flach wie möglich an den Hals des Pferdes.
    Ich machte am Kiosk nicht Halt. Ja, ich machte für eine lange Zeit nicht Halt. Ich presste meine Knie fest zusammen und schoss die schneebedeckte Straße
hinab, flog durch die arktische Luft, über den Schutt, die kaputten Möbel, die Straßenbahnschienen, das Anthrax und Gott weiß was noch alles hinweg, und die Straßen verzweigten sich, die Häuserreihen fächerten sich auf wie Bäume in einem Wald, und die dreckige, vergiftete, tote Stadt umarmte, umfing, verbarg mich. Und zum ersten Mal seit vielen Jahren wusste ich, was es hieß, frei zu sein.

5
    ALS DER TAG ANBRACH, fand ich mich auf dem zentralen Platz von Polyn wieder, auf dem ein riesiger Bronzekopf über ein weites Schneefeld starrte.
    Es war ein glatzköpfiger, bärtiger Kerl mit Schlitzaugen, und der Schnee türmte sich an seinen Wangen wie ein gestärkter Kragen. Man hatte ihn nur vom Kinn aufwärts gegossen, aber er maß trotzdem bestimmt mehr als fünf Meter. Ich ritt zweimal um ihn herum und hinterließ dabei einen Kreis von Spuren. Wenn das sein Grab war, musste ich ihn wohl um Entschuldigung bitten, denn als Nächstes kletterte ich an seiner Nase hoch und pflanzte meinen Hintern direkt auf seine große, kahle Platte, um zuzusehen, wie die Sonne über der Stadt aufging.
    Diese ersten Strahlen spendeten keine Wärme, aber etwas sehr Schönes lag in der Art, wie sie auf dem Bronzekopf glitzerten, den roten Marmor des Fundaments aufleuchten ließen und in den Fenstern der großen, eckigen Gebäude schimmerten, die mich umgaben.

    Der Kopf blickte direkt nach Osten in den Sonnenaufgang, über das alte Polyn hinaus. Als die Sonne höher stieg, wurde der Platz heller und das Schneefeld leuchtete weiß auf – kein Wunder, dass der Bronzekopf die Augen zusammenkniff.
    An den Spuren im Schnee konnte ich ablesen, dass auch die Gefangenen diesen Platz zur Orientierung genutzt hatten. Er musste der klarste Bezugspunkt auf ihren Karten sein. Die Spuren führten aus unterschiedlichen Richtungen auf den Platz, verließen ihn aber alle auf demselben Weg: westwärts, vorbei an den beiden Straßensperren, die die Trennung zwischen der neuen und der alten Stadt markierten.
    Das höchste Gebäude auf unserer Seite war nicht höher als zehn Stockwerke, doch durch das Fernglas sah ich auf der anderen Seite der Sperren Häuser, die doppelt oder sogar drei Mal so hoch waren. Ihre Form hatte etwas Herzloses und Scharfes: klare, gerade Flächen,

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