Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
Vom Netzwerk:
grau wie Granit, ohne jeden Schmuck – nichts, was einem gesagt hätte, dass sie einmal von lebenden Menschen gebaut worden waren. Und noch das größte der Gebäude wurde von einem blauen Metallkran in den Schatten gestellt, der wie ein riesiger, kopfloser Vogel daneben stand.
    Man sollte eigentlich meinen, eine Stadt würde
ihre Bewohner irgendwie vermissen oder sie würde zumindest unvollständig wirken ohne ein oder zwei Wäscheleinen, jemanden, der an einer Ecke faulenzt, ein paar Kinder, die zur Schule eilen. Polyn 66 aber schien keinen größeren Bedarf an Menschen zu haben als ein Friedhof. Die Stadt war perfekt, so wie sie war, nichts als Beton und rechte Winkel, regiert vom steinernen Kopf eines Riesen.
    Um ehrlich zu sein, es hätte dieser Stadt nicht gut getan, wenn Menschen in ihr gelebt hätten. Menschen hinken und trödeln. Sie lümmeln herum, gehen nicht in geraden Linien, spucken auf die Gehwege. Die Stadt, die ich durch das Fernglas sah, wirkte, als würde sie bis in alle Ewigkeit in Habachtstellung verharren.
     
    Die Schneedecke war ziemlich lückenlos, aber hier und da spitzten Büschel braunen Grases hervor, zu denen sich die Stute hingezogen fühlte. Die Gefahr jedoch, dass das Gras Gift aus dem Erdreich aufgesogen hatte, war zu groß, also band ich ihr den Futtersack um.
    Dieses Trockenfutter würde wohl auch meinen schlimmsten Hunger lindern, aber ich wollte gar nicht darüber nachdenken, wie ich uns beide ernähren sollte, wenn er leer war. Natürlich, ich konnte die Stute töten und essen, wenn es zum Äußersten kam –
es wäre nicht das erste Mal, dass ich so etwas tat –, doch es war ein weiter Weg nach Hause.
    Während ich die Straßen nach etwas absuchte, in dem ich Schnee schmelzen konnte, fiel mir auf, wie ordentlich alles zurückgelassen worden war. Die meisten Scheiben waren heil, die Vordertüren waren zu und mit Schlössern gesichert.
    An der Straße zurück zur Brücke allerdings stand ein großes gelbes Anwesen, dessen Vordertür in den Angeln hing und vom Wetter völlig verzogen und aufgequollen war. Überreste von Möbeln stapelten sich im Eingang. Ich hatte über die Jahre in Evangeline oft genug einen ähnlichen Anblick gesehen, um zu erkennen, dass hier jemand auf der Suche nach Feuerholz eingebrochen war.
    Es war ein weitläufiges altes Gebäude mit zwei Säulen, die einen Portikus stützten. Darunter, in Fliesen ausgelegt, die Ziffer 1897. Ich ging hinein und fand einen Duschvorhang und ein paar rostige Skistöcke. Und die Überreste eines Feuers am Fuß der Treppe.
    Mein erster Gedanke war, dass einer der Gefangenen beschlossen hatte, seine Anweisungen zu missachten und sich alleine durchzuschlagen, und halb rechnete ich damit, auf ihn zu treffen, als ich die Treppe hinaufging. Tatsächlich entdeckte ich in der Wohnung im ersten Stock jemanden – aber es war keiner unserer Leute.

    Er lag mit dem Gesicht nach unten auf einem großen türkischen Teppich und hatte dieselben Fesseln an den Füßen wie unsere Gefangenen. Ich wollte ihn nicht anfassen, also drehte ich ihn um, indem ich einen Regenschirm, den ich in einem der Schränke im Flur fand, an seinem Arm einhakte.
    Ich werde nie vergessen, wie leicht er war. Wie ein leeres Schneckenhaus. Ich konnte ihn allerdings nur ein Stückchen weit drehen, denn etwas an seinem anderen Arm war mit dem Teppich verklebt. Vom Fleisch seines Gesichts war nichts mehr übrig, und ich vermutete, dass er schon ein oder zwei Jahre hier lag.
    Im Badezimmer entdeckte ich die Überreste eines Schweins. Hatte er es hier womöglich geschlachtet und gegessen? Es könnte das Schwein gewesen sein, was ihn erledigt hatte. Pilze sind die schlechteste Nahrung in einer vergifteten Gegend, weil ihre Wurzeln so tief reichen, aber ein Schwein ist kaum besser, da Pilze seine Nahrung sind.
    Die Treppe ging fünf Stockwerke hoch, und oben führte eine zweite, schmalere Treppe aufs Dach.
    Je höher ich kam, desto heller wurde das Licht, das der Schnee reflektierte. Dann, auf dem Dach angelangt, fiel ich auf die Knie und leckte den schmelzenden Schnee direkt von den Ziegeln.

    Das Dach bot eine gute Aussicht auf den Fluss. Ich konnte die Sperre auf der Brücke sehen und durch das Fernglas sogar die einzelnen Wachen erkennen, wie sie in ihrem Lager herumschlurften. Sie hatten ein kleines Feuer gemacht, also mussten sie irgendwo sauberes Holz gefunden haben. So langsam, wie sie sich bewegten, mussten sie vom Abend zuvor ziemliche Kopfschmerzen haben.
    Am

Weitere Kostenlose Bücher