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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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späten Vormittag dann tauchten die ersten Gefangenen an der Brücke auf. Ich sah sie nicht kommen, weil ich zu beschäftigt damit war, Schnee vom Dach in einem Kübel zu schmelzen. Der Mangel an Nahrungsmitteln hier in der Zone machte mir nicht so viele Sorgen, aber ohne Wasser würden ich und das Pferd in ein paar Tagen sterben.
    Als ich das zweite oder dritte Mal aufs Dach ging, sah ich, dass die Wachen nun weiße Overalls mit Kapuze und Masken trugen, die ihre Gesichter bedeckten, so dass es schwer fiel, sie voneinander zu unterscheiden. Sie hatten den Gefangenen befohlen, sich in Reihen auf die mir zugewandte Seite der Brücke zu setzen, und nun wurde einer nach dem anderen aufgefordert, vorzutreten, und seine Funde auszuhändigen. Die Gefangenen standen auf, legten ihre Sachen hin, und gingen dann rüber auf die andere Seite.
    Als die Prozedur abgeschlossen war, kam eine der
Wachen nach vorne und sprühte den Haufen hingeworfener Objekte mit einem Schlauch ab, der zu einem Tank auf seinem Rücken führte. Es war ein ziemlich merkwürdiger Apparat, wie eine Mischung aus einer Unkrautspritze und diesem Gerät, mit dem wir früher immer Bienenstöcke beräuchert hatten.
    Fasziniert sah ich der Wache zu – als plötzlich Schüsse fielen. Zwei Gefangene hatten sich losgerissen und versuchten, zurück über die Brücke zu rennen, doch mit ihren Ketten kamen sie nur äußerst langsam voran.
    Eine Salve von Schüssen, und einer der Flüchtenden stürzte zu Boden. Der andere rannte noch zehn oder fünfzehn Meter weiter. Dann blieb er stehen, kniete sich hin und starb wie ein Mann im Gebet. Ich hatte noch nie jemanden so sterben sehen – man würde nicht meinen, dass die Schwerkraft das zuließ.
     
    Die Temperaturen fielen wieder, als die Nacht anbrach. Es tropfte nicht länger von den Dächern, und der Schneematsch auf den Straßen wurde zu Eis.
    Ich hatte die Stute im Treppenhaus untergestellt. Ich selbst hatte vor, die Nacht auf dem Dach im Freien zu verbringen, wo die Luft sauberer war und ich ein Auge auf die Wachen haben konnte.
    Ihr Feuer war nun ein kleiner gelber Funken in der Dunkelheit, und die Stadt war so still, dass gelegentlich
ein undeutliches Grunzen oder Lachen über den Fluss getragen wurde.
    Als dann die Sterne herauskamen, brach ich in eine Wohnung auf einem der oberen Stockwerke ein, um mir eine Decke zu holen. Die Wohnung war in makellosem Zustand zurückgelassen worden: Da waren eine Vase mit vertrockneten Blumen, eine Sitzgruppe mit Schonbezügen, ein Glasschrank mit jeder Menge russischer Bücher, ein verstaubter Fernseher, eine Stehlampe mit ausgefranstem Kabel. Das Bett im Elternschlafzimmer war abgezogen, und darauf lagen zwei Reißverschlusstaschen mit Betttüchern und Decken. Auf dem Nachttisch ein Foto, eine Uhr und eine Bibel.
    Das zweite Schlafzimmer war halb so groß wie das erste und hatte ein Einzelbett. An der Pinnwand neben dem Frisiertisch hingen Fotos eines dunkelhaarigen Mädchens. Auf manchen Bildern war sie Eisfischen, auf anderen aß sie Zuckerwatte und stand in der Kabine eines großen Riesenrads in einer Stadt, die ich nicht kannte. Noch nach so vielen Jahren, in denen der Raum menschenleer war, hing etwas Süßes in der Luft: ein schwacher Duft nach getrockneten Rosen hinter all dem Muff und dem Geruch nach Schädlingsgift, das man einst um die Fußleisten ausgelegt hatte.
    Ich fand das Tagebuch des Mädchens in der
Schublade des Frisiertischs. Es war auf Russisch, aber ich musste es nicht lesen, um zu wissen, was darin stand. Ich wusste, dass es Schnüffler mit Drohungen und Verwünschungen bedachte. Es stufte die Jungs in der Schule nach ihrer Brauchbarkeit als Liebhaber und Ehemänner ein. Es listete die Monatszyklen auf, die der erste Beweis waren, dass das Mädchen zur Frau wurde. Und es freute sich ungeduldig auf eine Zukunft, die längst zu Staub zerfallen war. Ich wusste das, weil ich selbst einmal genau so ein Tagebuch gehabt hatte.
    War es nicht die Geschichte von Goldilocks, in der das kleine Mädchen ins Haus der drei Bären schleicht, ihr Essen verspeist und sogar einen Platz zum Schlafen findet? In jener Nacht kam ich mir vor wie im Gegenteil dieser Geschichte: ein stinkender, vernarbter Bär, der nach Blut und Schießpulver stank und plötzlich in einer Welt sauberer Bettlaken und Blumen auftauchte.
    Und doch: Als ich auf diesem Bett saß, spürte ich einen Teil von mir hervorkommen – weich und ängstlich wie eine Schnecke. Und ich spürte, wie sich

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