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Welch langen Weg die Toten gehen

Welch langen Weg die Toten gehen

Titel: Welch langen Weg die Toten gehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
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Liebling.«
    Er hatte getrunken, aber nicht so viel, dass er in seiner Motorik beeinträchtigt gewesen wäre. Er sprang vom Klavierhocker, ging um mich herum und schloss die Tür, bevor ich überhaupt wusste, wie mir geschah. Erst als er mich packte, bekam ich es mit der Angst zu tun. Ich trug nur ein kurzes T-Shirt, in dem ich schlafe, er schob es nach oben und zog mich zu sich heran. Er war vollständig bekleidet, doch das verhinderte nicht, dass ich seine Erektion spürte. Er versuchte mich zu küssen. Ich wollte schreien, aber was hätte das genutzt, wenn nur Helen im Haus war? Also versuchte ich mit ihm zu reden, aber mit Worten war an ihn nicht mehr ranzukommen. Er lockerte seinen Griff, nahm einen Arm weg, damit er sich den Gürtel öffnen und die Hose nach unten schieben konnte. Dabei riss ich mich los, wollte fliehen, fiel aber über den Hocker und krachte gegen die offene Klaviertastatur. Der Lärm war enorm. Er schien ihn noch mehr zu erregen. Er warf mich mit dem Gesicht nach unten auf den Boden, setzte sich rittlings auf mich und sagte so was Ähnliches wie: »Ist es dir so lieber? Soll mir recht sein!« Mittlerweile hatte er auch seine Hosen unten, und weiß der Himmel, was geschehen wäre. Aber in diesem Augenblick hörte ich Helen rufen. »Kay? Kay? Bist du das?«
    Sie war auf der Toilette gewesen, wie mir später bewusst wurde, und jetzt kam sie, aufgeschreckt vom Lärm, die Treppe herunter.
    Pal hielt inne. Ich sagte: »Um Gottes willen, es ist deine kleine Schwester. Willst du, dass sie dich so sieht?«
    Er rollte sich von mir.
    Als ich aufstand und zur Tür eilte, sagte er: »Dann ein andermal, Kay. Aller guten Dinge sind drei, was?«
    Ich ging hinaus und schloss hinter mir die Tür, als Helen gerade auf der untersten Stufe stand.
    Ich drehte sie um und eilte mit ihr wieder hinauf, wies sie zurecht, weil sie in der nächtlichen Zugluft herumirrte, und bestand darauf, dass sie für den Rest der Nacht zu mir ins Zimmer kam, was sie immer geliebt hatte. Sie lag neben mir und plapperte sich in den Schlaf, aber ich konnte die ganze Nacht kein Auge zutun, lauschte jedem Geräusch in der Dunkelheit und fragte mich, wie ich mit allem umgehen sollte.
    Am Morgen stellte ich fest, dass Pal fort war.
    Sein Vater kehrte erst einige Tage später zurück, an dem Tag vor dem Abflug in die Staaten. Was immer er getrieben hatte, er schien sehr zufrieden mit dem Ergebnis, was auch auf die Beziehung zu mir abfärbte. Es war also nicht unbedingt der beste Zeitpunkt, um ihn auf mein Problem anzusprechen. Wann würde der Zeitpunkt besser sein? Ich wusste es nicht, aber es fiel mir leicht, die Aussprache zu verschieben, nachdem der Flug nach Hause so kurz bevorstand. Ich beschloss also, sofort abzureisen, eben weil wir uns so gut verstanden. Ist das ein Widerspruch? Ich dachte mir, es wäre besser, wenn wir uns trennten, ohne dass ein Misston auf unsere Beziehung fiel – schließlich würde es die längste Trennung seit unserer Hochzeit sein. Ich sagte ihm also, dass ich nicht erst früh am Morgen abreisen wolle, sondern im Flughafenhotel für mich und Helen für eine Nacht ein Zimmer gebucht habe. Er meinte, wunderbar, das sei wesentlich sinnvoller, er habe dies auch immer so gehandhabt. Und wir küssten uns wie ein altes, liebevolles Ehepaar, und los ging’s.
    Hätte es was geändert, wenn ich geblieben wäre? Ich weiß es nicht. Ich kann nicht sagen, ob der verlogene Brief, den Pal junior ihm angeblich geschrieben haben will, bereits im Poststapel lag, den er bei meiner Abreise noch nicht durchgesehen hatte, oder ob er erst am nächsten Morgen eintraf. Vielleicht hätte ich die schrecklichen Anschuldigungen entkräften können, sofern sie überhaupt der Grund für seinen Selbstmord gewesen waren. Aber in diesem Fall hätte ich ihm die Augen dafür öffnen müssen, was für einen Sohn er hatte, und das wäre vielleicht noch schlimmer gewesen.
    Möglich ist natürlich auch, dass Pal junior nie den Brief abgeschickt und sich alles nur ausgedacht hat, nachdem er fest davon überzeugt scheint, ich sei indirekt schuld am Tod seines Vaters. Was aber bedeuten würde, dass es einen anderen Grund für seinen Selbstmord geben muss.
    Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, wir küssten uns zum Abschied, und dann flog ich ab, erst nach Florida, um die englische Kälte aus den Knochen zu bekommen und Helen Disneyland zu zeigen. Dann mietete ich einen Wagen, und wir fuhren nach Norden. Wir hatten keine Pläne. Es blieben uns zehn

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