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Wellenbrecher

Titel: Wellenbrecher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minette Walters
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anzufangen. Gelegentlich, wenn er den Verkehr auf seiner linken Seite prüfte, trafen sich ihre Blicke, aber Ingram empfand keine Spur des Mitgefühls für Harding, das Galbraith auf der Crazy Daze plötzlich verspürt hatte. Er sah nichts als Unreife im Gesicht des jungen Mannes und verachtete ihn dafür. Er erinnerte ihn an all die jugendlichen Straftäter, die er im Lauf der Jahre festgenommen hatte und von denen nicht einer die Erfahrung oder die Einsicht besessen hatte, die zwangsläufigen Folgen seines Tuns zu erkennen. Sie alle sahen ihre Tat nur im Zusammenhang mit Vergeltung und Justiz und der Frage, ob sie würden ›sitzen‹ müssen, aber nie im Hinblick auf die langsame Zerstörung ihres eigenen Lebens.
    Erst als sie durch den kleinen Ort Corfe Castle mit seinen zerfallenen mittelalterlichen Festungsmauern fuhren, brach Harding das Schweigen. »Das alles wäre nie passiert«, sagte er in ruhigem, vernünftigem Ton, »wenn Sie am Sonntag keine voreiligen Schlüsse gezogen hätten.«
    »Was alles?«
    »Alles eben. Meine Festnahme. Das hier.« Er berührte mit der Hand die Armschlinge. »Ich sollte überhaupt nicht hier sein. Ich hatte ein Engagement in London. Es hätte der Durchbruch für mich sein können.«
    »Der einzige Grund, warum Sie hier sind, ist Ihr Angriff auf Miss Jenner heute morgen«, erklärte Ingram. »Was haben die Ereignisse vom Sonntag damit zu tun?«
    »Sie würde mich überhaupt nicht kennen, wenn nicht der Mord an Kate gewesen wäre.«
    »Das stimmt.«
    »Und Sie glauben mir nicht, daß ich nichts damit zu tun hatte - keiner von Ihnen glaubt mir -, aber das ist nicht fair«, beschwerte sich Harding mit plötzlich aufwallender Bitterkeit. »Es ist nichts weiter als ein verdammt unglücklicher Zufall, genau wie der Zusammenstoß mit Maggie heute morgen. Glauben Sie denn, ich hätte mich ihr gezeigt, wenn ich gewußt hätte, daß sie da war?«
    »Warum nicht?« Ingram gab Gas, als sie die Ortschaft hinter sich ließen.
    Harding starrte mit trüber Miene auf Ingrams Profil. »Haben Sie eigentlich eine Ahnung, wie das ist, wenn man auf Schritt und Tritt von der Polizei beobachtet wird? Sie haben mein Auto und mein Boot. Ich muß in einem Haus wohnen, daß sie mir bestimmt haben. Ich werde wie ein Verbrecher behandelt, obwohl ich nichts verbrochen habe, aber wenn ich wütend werde, weil irgendeine dumme Gans so tut, als wäre ich Jack the Ripper, werde ich wegen tätlichen Angriffs angezeigt.«
    Ingram hielt den Blick auf die Straße gerichtet. »Sie haben sie geschlagen. Finden Sie nicht, daß sie ein Recht darauf hatte, Sie wie Jack the Ripper zu behandeln?«
    »Ich habe nur zugeschlagen, weil sie geschrien hat wie am Spieß.« Er kaute auf seinen Fingernägeln. »Sie haben ihr wahrscheinlich erzählt, ich wäre ein Vergewaltiger, und sie hat Ihnen natürlich geglaubt. Das war’s, was mich so wütend gemacht hat. Am Sonntag hat sie sich mir gegenüber ganz normal benommen, und heute plötzlich -« Er brach ab.
    »Wußten Sie, daß sie dort sein könnte?«
    »Natürlich nicht. Woher hätte ich das wissen sollen?«
    »Sie reitet fast jeden Morgen in das Tal. Es ist einer der wenigen Orte, wo sie ihre Pferde richtig galoppieren lassen kann. Jeder, der sie kennt, hätte Ihnen das sagen können. Es ist außerdem einer der wenigen Orte mit leichtem Zugang zum Strand.«
    »Das habe ich nicht gewußt.«
    »Warum wundert es Sie dann, daß sie Angst vor Ihnen hatte? Sie hätte auch vor jedem anderen Mann Angst gehabt, der auf dieser einsamen Landspitze plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht wäre.«
    »Bei Ihnen hätte sie keine Angst gehäbt.«
    »Ich bin Polizist. Mir vertraut sie.«
    » Mir hat sie auch vertraut«, versetzte Harding, »bis Sie ihr erzählt haben, ich wäre ein Vergewaltiger.«
    Den gleichen Vorwurf hatte Maggie ihm gemacht, und Ingram mußte insgeheim zugeben, daß er gerechtfertigt war. Es war das schlimmste Unrecht, den Ruf eines unschuldigen Menschen zu zerstören, ganz gleich, auf welche Weise, und obwohl weder er selbst noch Galbraith wortwörtlich gesagt hatten, Harding sei ein Vergewaltiger, so war die versteckte Andeutung doch unmißverständlich gewesen.
    Sie fuhren eine Weile schweigend weiter. Die Straße nach Swanage führte südöstlich am Grat von Purbeck entlang, und wo sich das grüne Weideland senkte, sah man in der Ferne das Meer schimmern. Die Sonne schien warm auf Ingrams Arm und Nacken; Harding jedoch, der im Schatten auf der linken Wagenseite saß,

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