Wendekreis des Krebses
abgelegt hat, der Enthaltsamheit im Essen usw. Bei dem Marsch nach Dandi war es sogar verboten, auch nur eine Portion Eiscreme zu essen. Er erzählt mir vom Spinnrad – wie die kleine Gruppe von Satyagrahisten der Frömmigkeit ihres Meisters nacheiferte. Er berichtet voll Stolz, wie er neben dem Meister herging und sich mit ihm unterhielt. Ich habe die Illusion, mich in Gesellschaft eines der zwölf Jünger zu befinden.
Während der nächsten paar Tage sehen wir einander häufig; Interviews mit den Zeitungsleuten müssen vereinbart und den Hindus in Paris Vorträge gehalten werden. Es ist erstaunlich, zu sehen, wie diese rückgratlosen Teufel einander herumkommandieren; erstaunlich auch, wie untüchtig sie in allen praktischen Angelegenheiten sind. Und die Eifersüchteleien und Ränke, die kleinlichen, schmutzigen Nebenbuhlerschaften. Wo immer zehn Hindus beieinander sind, hat man Indien mit seinen Sekten und Spaltungen, seinen rassischen, sprachlichen, religiösen und politischen Gegnerschaften. In der Person Gandhis erlebten sie einen kurzen Augenblick das Wunder der Einigkeit, aber mit seinem Tod wird ein Zusammenbruch, ein vollständiger Rückfall in den für das indische Volk so charakteristischen Hader und das Chaos erfolgen.
Der junge Hindu freilich ist optimistisch. Er war in Amerika und wurde von dem billigen Idealismus der Amerikaner angesteckt, verdorben durch die überall vorhandene Badewanne, den Schund der Fünf- und Zehn-Cent-Läden, die Rührigkeit, die Geschäftstüchtigkeit, die Mechanisierung, die hohen Löhne, die Volksbibliotheken usw. usw. Sein Ideal wäre, Indien zu amerikanisieren. Er ist durchaus nicht begeistert von Gandhi rückschrittlicher Manie. Vorwärts , sagt er, wie ein YMCA-Mann. Während ich seinen Erzählungen über Amerika zuhöre, erkenne ich, wie töricht es ist, von Gandhi das Wunder zu erwarten, das der Schicksalstendenz eine andere Wendung geben soll. Indiens Feind ist nicht England, sondern Amerika. Indiens Feind ist der Zeitgeist, die unabwendbare Richtung. Nichts wird gegen diesen Ansteckungsbazillus etwas ausrichten, der die ganze Welt vergiftet. Amerika ist die wahrhaftige Inkarnation des Verhängnisses. Es wird die ganze Welt in den bodenlosen Abgrund reißen.
Er hält die Amerikaner für ein sehr leichtgläubiges Volk. Er erzählt mir von den arglosen Seelen, die ihn dort unterstützten – den Quäkern, den Unitariern, den Theosophen, den Neudenkern, den Adventisten usw. Er wußte, wie er sein Boot zu steuern hatte, dieser gerissene junge Mann. Er verstand es, im richtigen Augenblick Tränen in seine Augen treten zu lassen. Er wußte, wie man eine Sammlung aufzieht; wie man die Pfarrersfrau für sich gewinnt; wie man Mutter und Tochter gleichzeitig den Hof macht. Wenn man ihn ansah, hätte man ihn für einen Heiligen gehalten. Und er ist ein Heiliger, nur in der modernen Art. Ein infizierter Heiliger, der im gleichen Atemzug von Liebe, Brüderlichkeit, Badewannen, sanitären Einrichtungen, Geschäftstüchtigkeit usw. spricht.
Die letzte Nacht seines Pariser Aufenthaltes ist der Fickerei gewidmet. Er hatte den ganzen Tag über ein ausgefülltes Programm – Besprechungen, Telegramme, Interviews, Fotografien für die Zeitungen, gerührte Verabschiedungen, Ratschläge für die Gläubigen usw. Um die Abendzeit beschließt er, seine Geschäfte beiseite zu schieben. Er bestellt Champagner zum Essen, schnippt dem garçon mit den Fingern und benimmt sich im großen und ganzen als der ungebildete kleine Bauer, der er ist. Und da er die Nase voll hat von all den besseren Plätzen, schlägt er vor, ich sollte ihm was Primitiveres zeigen. Er wollte gern in etwas ganz Billiges gehen und zwei oder drei Mädchen auf einmal bestellen. Ich lotse ihn den Boulevard de la Chapelle entlang, wobei ich ihn ständig ermahne, auf seine Brieftasche aufzupassen. Bei Aubervilliers tauchen wir in eine billige Spelunke, und sofort haben wir einen ganzen Schwarm um uns. Ein paar Augenblicke später tanzt er mit einem nackten Weib, einer üppigen Blondine mit Schminke in ihren Backenfalten. Ich kann ihren Hintern ein dutzendmal in den Spiegelwänden wiederholt sehen – und seine dunklen knochigen Finger, die sich hartnäckig an sie klammern. Der Tisch steht voller Biergläser, das elektrische Klavier klimpert und röchelt. Die unbeschäftigten Mädchen sitzen gelassen auf den Lederbänken, kratzen sich friedlich, ganz wie eine Schimpansenfamilie. Die Luft ist von einer Art unterdrückten
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