Wenn das der Führer wüßte
losgeht, wenn das Trägerflugzeug getroffen wird? Das kann man auch nur dem deutschen Volk weismachen! Immerhin leben wir nicht mehr in der guten alten Zeit, sagen wir: der Gleiwitz-Zeit. Köpfler dürfte sich die Machtübernahme etwas anders vorgestellt haben. Die Sache mit dem Führer war ‚perfekter Mord’, nur war er um eine Spur zu perfekt. Dann die Meuterei der Luftwaffe – das alles kam Schlag auf Schlag. Ja, was wollen wir denn noch? Dieser Krieg ist verloren, auch wenn wir zehn Armeen verheizen. Und man kann nichts Klügeres tun, als die nackte Haut retten. Für meine Person werde ich das tun oder zu tun versuchen. Kommen Sie jetzt!“
Höllriegl war fassungslos. Der sonst so vorsichtige, abgeklärte „Schlafspritzenfritze“ (Senkpiehls Spottname) war ja außer Rand und Band! So hatte er ihn noch nie gesehen. Wenn Senkpiehl zu einem Amtswalter und eingefleischten Pg. so offen sprach, dann mußte etwas geschehen sein, das nicht mehr gutzumachen war. Etwas Heilloses, Unheilbares! Das Wort „Altersblödsinn“ hatte Höllriegl tief getroffen. Ja, der Führer war alt geworden, das stimmte. Aber Alter macht weise. Der Führer war für ihn stets der Inbegriff arischen Weistums gewesen … (Dabei trug Senkpiehl das Parteiabzeichen – so also stand es um die Partei!)
Völlig durcheinander folgte er dem die Treppe hinabeilenden Arzt. Ein plötzlicher Lichtblitz: Vielleicht war Senkpiehl mit den „Unterirdischen“ im Bandl? Als sie schon auf der Straße waren, fiel ihm ein, daß er Kummernuß’ Pistole vergessen hatte. Er lief mit ein paar Sätzen die Treppe hinauf. Den Lautsprecher hatte er zuvor auf leise gestellt gehabt. Als er das Schießeisen nicht gleich fand (Senkpiehl hupte unten ungeduldig), drehte er auf Zimmerlautstärke. Augenblicks wurde er von Glockenklängen umwogt. Es waren viele Glocken, die einander ablösten, tiefe und dunkle, hohe und helle, und ihre Stimmen erfüllten in immer mächtigeren Wallungen das Zimmer.
„– die Glocke der Berliner Gedächtniskirche hat das große Gedenken eingeläutet, die anderen Glocken der Reichshauptstadt sind gefolgt, besonders gut erkennbar die Stimme der Potsdamer Garnisonkirche und der Dorotheenstädter Kirche, dann haben wir die Glocken der Dome von Köln, von Ulm und von Speyer, die Pummerin aus Wien, die Glocken von Sankt Peter, die Glocken von Notre-Dame, von Rouen und von Chartres, die Glocken von Prag, Sankt Petersburg und Kiew, die Glocken der Uspenskij-Kathedrale im Kreml und der Basilius-Kathedrale eingeblendet, und nun erschallen auch die erzenen Zungen und Zünglein der Landkirchen in des Führers Heimat- und Ahnengau, die Glocken von Braunau und Leonding, die Glocken von Groß-Wolfgers und Döllersheim. Sie alle fallen ein, und es ist, als ob sich von Turm zu Turm, immer weitere, immer lichtere Kreise ziehend, der feierliche Ruf, ihr allmächtiges Geläute, ausbreiten würde über die Städte hinaus, über das ganze deutsche Land und über die weite, weite Welt, auf daß alle, die guten Willens sind, die Botschaft hören können, die uns der neue Führer des Germanischen Weltreichs und Schirmherr aller mit ihm verbündeten Völker und Nationen soeben verkündete – – – [Wo zum Teufel hatte er die Pistole versteckt?] – – – gewaltig und sieghaft vor Augen führen – – – eine Schicksalsgemeinschaft aller arischen Menschen, welcher Sprache immer sie sein mögen – – – daß nun aus tausendjähriger Sehnsucht und tausendjährigem Kampf – – – bis zum deutschen Ural – – – nimm unseren stolzesten, heißesten Dank für diese Erfüllung – – –“
Da war endlich die Pistole, er hatte sie in den hintersten Winkel des Kleiderspinds geworfen. Und auch die Munition. Bevor er das Zimmer verließ, gab er dem Radio einen Tritt, daß es scheppernd vom Tischchen kollerte. Es schrie noch einmal kläglich auf, dann brachen die Glocken und die pathetische Stimme ab.
Senkpiehl lächelte ironisch, als Höllriegl ihm die Waffe zeigte. Er deutete nach hinten. Da lagen tatsächlich auf den Rücksitzen ein Gewehr und eine Maschinenpistole. Wie Höllriegl mit geschultem Blick und Griff feststellte, war es ein Karabiner 7,62 mit Magazin für Mehrgeschoßpatronen und eine MP älteren Typs, eine Neuner vermutlich. Auch ein Karton mit Infanteriemunition lag im Fond.
Das Bedrückende war, daß sie durch beinah menschenleere Gassen fuhren. Wo sich noch vor ein, zwei Stunden Tausende Menschen gedrängt hatten, waren die Straßen
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