Wenn das der Führer wüßte
an, daß er ihr folgen solle. Sie gingen, das Mädchen voran, Höllriegl, benommen von dem Gesehenen, zögernd hinterdrein. Er folgte ihr um das Heldenmal herum, und sie verließen die Einfriedung.
Am Waldrand blieb die Stumme stehen, um zu rasten. Als Höllriegl sich erbötig machte, ihr eines der Bündel abzunehmen, stieß sie ihn mit aller Kraft zurück. Sie hatte ein wildes, scheues Gehaben, ihre blauen Augen, das Schönste an ihr, blitzten ihn an. Dabei schüttelte sie die hellen Zotteln, und wieder kamen aus ihrem Mund die unverständlichen Laute.
Ein schmaler, überwachsener Pfad führte tief ins Waldinnere. Es war junger Mischwald, schlecht gehalten, das Unterholz stellenweise so dicht, daß sie nur langsam vorwärtskamen. Nasses Laub bedeckte weithin den Boden, der süßliche Herbstgeruch erinnerte Höllriegl an Anselmas Ausdünstung.
Sie gingen und gingen, von Zeit zu Zeit rastete das Mädchen, ohne sich umzusehen. Inmitten der Einsamkeit kamen sie an einer verfallenen Hütte vorbei, um die das Gestrüpp besonders dicht wuchs. Ein halb niedergebrochener Zaun umgab einen kleinen Platz, und Höllriegl sah hohe, mit Unkraut und Laub bedeckte Haufen. Als sie ganz nahe waren, bleckte ihn aus dem aufgerissenen Maul eines ausgegrabenen Pferdeschädels weißes Gebiß an. Die Schinderbude eines Abdeckers … (Wie hieß doch T 4 früher? Die Reichsabdeckerei!) Der Gedankensprung brachte Höllriegl wieder völlig zu sich zurück. Seine Sinne waren aufs äußerste angespannt. Er witterte einen Hinterhalt. Und da war auch wieder das ferne Dröhnen hoch über den Baumwipfeln.
Warum zum Teufel folgte er der Stummen? Jetzt könnte er schon längst wieder unterwegs sein. Immerhin, er hatte noch Zeit – trotz dem Umweg, den man ihm aufgezwungen hatte.
Der Wald fiel sanft zu einem verwilderten Tal ab, der Boden wurde sandig, das Unterholz lichtete sich, vereinzelte Föhren wiegten sich im Wind. Sie überquerten verrostete Geleise, zwischen denen Unkraut sproßte, und folgten schließlich einer Schmalspurbahn, deren verfaulte Schwellen immer wieder im Sand verschwanden. Hier fanden sich Fußspuren auf dem nassen Boden, es waren die Abdrücke von Männerschuhen, zwei Paar Stiefel, die mit Hufeisen beschlagen waren, neben einer Spur von Frauenschuhen. Das Tal, noch immer ein unzugängliches Dickicht, weitete sich zu einem Kessel, der wie eine ehemalige Schottergrube aussah. Die Wände waren hoch und steil und oben von dichtem Gebüsch bekrönt. Umgestürzte Förderwägelchen und die Überbleibsel von Arbeiterbaracken versperrten ihnen den Weg, auch eine hohe Geröllhalde mußte überklettert werden, ehe sie den Steilhang erreichten. Überall gab es hier kleine Eingänge ins Berginnere, mit Bohlen verschlagen, eingestürzt oder durch Schotterberge verrammelt. Vor einem solchen Eingang, zu dem man sich durch dorniges Buschwerk einen Weg bahnen mußte, machte Höllriegls Führerin halt. Der Bretterverschlag erwies sich als Tür, man brauchte bloß bestimmte Balken wegzuschieben, und ein Stollen tat sich auf. Das Mädchen knipste Licht an. Sie mußten gebückt gehen und tief Atem holen, es roch nach Schimmel und gestauter Luft. Der Stollen hatte eine Zimmerung aus schwerem Grubenholz, er war gut gepölzt. Später, als er breiter wurde und abwärts führte, sah Höllriegl, daß Stahlrippen das Bauholz ersetzt hatten. Der Gang mündete in einen geräumigen, ausbetonierten Tunnel, der von elektrischen Birnen notdürftig erhellt war und mit leichtem Gefälle ins Erdinnere weiterführte. Ein scharfer Luftzug – die Brise des Hades – kam den Wanderern entgegen; es war kalt. Hier schien es eine künstliche Lüftung zu geben.
Höllriegl war klargeworden, daß er sich in einer jener unterirdischen Fabriken befand, die vor dem Krieg und während der Luftschlacht über dem Reich für die Rüstung tätig gewesen waren. Ein dichtes Netz solcher Werke unter Tage hatte damals halb Europa überzogen, jede Werkseinheit war mit Ziffern oder Kennbuchstaben bezeichnet worden. Die „Stollenfertigungen“ hatten die Auflage gehabt, besonders wichtige und heikle Teile – oft auch nur einen einzigen Teil – einer bestimmten Waffe auf dem Fließband herzustellen und das Fertigprodukt sodann an die nächste Fertigung zum Weiterbau im Erzeugungsring zu leiten. Nur die allerobersten Werksbeamten und Techniker und natürlich auch die Abwehr wußten, um welche Waffe es sich jeweils handelte, wo und wie sie zusammengebaut wurde und nach welchen
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