Wenn das Herz im Kopf schlägt
Flur, sie fliegt, dreht den Schlüssel in der Badezimmertür, schließt das Fenster und zieht die Scheibengardinen dicht. Dann ins Schlafzimmer. Das Fenster zu, die Vorhänge vor. Am ganzen Körper zitternd fällt sie auf das Bett.
Nein! Küche und Wohnraum kann sie nicht auch noch lüften. Nicht heute. Ihr Herz schlägt im Kopf. Wenn ihr Herz im Kopf schlägt, kann sie nicht denken.
Sie zieht die Schublade des Nachttisches auf und nimmt einen der Briefe hervor. Dort hatte auch der Gemeindebrief mit dem Foto gelegen. Der war fort. Der war, während sie in der Klinik gelegen hatte, verschwunden.
Sie waren hier! Sie haben ihn mitgenommen
.
Die Hände wie zum Gebet flach gegeneinander gelegt, hält sie das Papier dazwischen. Die Decken zur Seite schiebend rollt sie sich zusammen und klemmt die Hände mit dem Brief zwischen die Oberschenkel.
Sie muss ihn nicht aus dem Umschlag nehmen. Sie muss ihn nicht auseinanderfalten und lesen. Sie kennt ihn auswendig:
August 1966
Liebe Margret
,
nun ist mein letzter Brief schon zwei Monate her und ich bin immer noch ohne Antwort
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Hier ist es heiß und Anna genießt den Sommer in vollen Zügen
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Johann hat ihr ein Pony geschenkt. Du solltest sie sehen. Am liebsten würde sie auch die Nacht auf der Wiese verbringen. Anna ist mein Glück, Margret, ohne Anna hätte ich hier keinen Halt mehr
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Johann ist, wenn er nüchtern ist, ein guter Ehemann, aber wenn er trinkt, ist er nicht mehr der, den ich geheiratet habe. Er trinkt mit den Männern, die mir nachstellen, und die erzählen ihm dann, daß ich ihnen schöne Augen gemacht hätte. Johann glaubt ihnen, zumindest wenn er betrunken ist. Dann kommt er nach Hause und schlägt mich. Er verbietet mir, ins Dorf zu gehen. Ich darf den Hof nur noch mit ihm gemeinsam verlassen. Die Einkäufe erledigt jetzt seine Mutter
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Wenn er weggeht und abends nach 19.00 Uhr noch nicht zurück ist, weiß ich, was kommen wird. Dann bringe ich schnell das Kind zu Bett. Immer bete ich, daß sie durchschläft und nicht mitbekommt, was sich hier abspielt. Aber immer häufiger steht sie dann plötzlich in der Tür und weint. Das schmerzt viel mehr als all die Schläge
.
Am Freitag war Frau Lüders hier. Sie hatte Hühner geschlachtet und brachte eines vorbei. Als sie mein blaues Auge sah, hat sie immer weggeschaut, während sie mit mir redete und dann habe ich es ihr gesagt. Ich habe ihr gesagt, daß ihr Mann Lügen über mich verbreitet und ob sie nicht mal mit ihm reden könne? Sie hat das Huhn auf die Gartenbank gelegt und gesagt, sie könne da nichts tun. Und dann ist sie davongelaufen, als hätte ich sie vom Hof gejagt
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Letzte Woche, als ich den Hof noch verlassen durfte, bin ich in meiner Verzweiflung beim Pastor gewesen. Ich habe ihm alles erzählt. Er hat vom heiligen Sakrament der Ehe gesprochen und daß ich sündige Gedanken hätte. Daß eine Ehe auch dunkle Stunden hätte und daß ich vor »seinem« Altar geschworen hätte, Johann in guten und in schlechten Zeiten zur Seite zu stehen
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Drei Tage später kam Johann nach Hause und wußte von dem Besuch. Er wußte alles, Margret, auch daß ich darüber nachdenke, ihn zu verlassen
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Es gibt keinen Menschen in diesem Ort, mit dem ich sprechen könnte. Ich spreche nur mit meiner Tochter
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Jetzt ist es wieder ein Brief voller Klagen geworden. Entschuldige bitte, Margret, aber ich muß es jemandem erzählen
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Zum Schluß habe ich noch eine Bitte. Kann ich mit Anna zu dir kommen, wenn es hier nicht mehr erträglich ist? Ich verfüge jetzt, wo ich auch den Einkauf nicht mehr machen kann, über keinerlei Geld, aber ich habe etwas Schmuck, und ich kenne das Pfandleihhaus in Kleve. Für Fahrkarten würde es sicher reichen
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Ich warte sehr auf eine Antwort von dir
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Liebe Grüße an deinen Mann
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Deine Schwester Magdalena
- 27 -
Vor der Haustür zieht er die Reißverschlüsse seiner Laufhose an den Unterschenkeln zu.
Auf dem Deich empfängt ihn ein perfekter, orangefarbener Kreis über Holland. Dünne Schlierwolken nehmen die Farbe auf und ziehen sie in Rot- und Gelbtönen auseinander. Aufsteigende Feuchtigkeit duckt sich auf dem Fluss und in den Feldern.
Er fällt in einen leichten Trab.
Es war ein guter Abend gewesen. Sie hatten gegessen und nicht zu viel getrunken. Er hatte von Andreas erzählt, der immer größer und hinfälliger geworden war. Der unter Mühen bis zehn zählen gelernt hatte und in den letzten drei Jahren seines Lebens nicht mal mehr sprechen konnte. Mit dem Körper
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