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Wenn das Herz im Kopf schlägt

Wenn das Herz im Kopf schlägt

Titel: Wenn das Herz im Kopf schlägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechtild Borrmann
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kann ein Versehen vom Steinmetz gewesen sein und keiner hat es bemerkt.«
    »Das glaube ich nicht!« Böhm wird plötzlich lebendig.
    »Du versuchst herauszufinden, wer das Grab pflegt. Hier gibt es bestimmt einen Friedhofsgärtner. Vielleicht hat der jemanden gesehen. Ich gehe rüber in den
Dorfkrug
und spreche mit Frau Holter.«
- 45 -
    Sie arbeitet an der Übersetzung eines russischen Romans. Hier, in dieser erfundenen Welt, kommt sie zurecht. Das Suchen nach Worten und Umschreibungen, nach Bildern und Metaphern, die in der einen Sprache ganz selbstverständlich und in einer anderen kaum wiederzugeben sind. Sprachlose Augenblicke, verschlossene Münder.
    Übersetzen! Das Wort hatte ihr damals gefallen. Über-setzen! An Schiffe hatte sie gedacht. An Menschen, die man an ein Ziel bringt.
    Gottes Strafe für den Turmbau zu Babel mildern: Sodass sie einander verstehen.
    Früher hatte sie wissenschaftliche Texte übersetzt, aber inzwischen arbeitet sie ausschließlich für einen Verlag, der Übersetzungen russischer Prosa veröffentlicht. Sie lächelt und denkt über die russische Redewendung Geld einsalzen nach. Ein Bild für Geiz. Schön ist das! Gerne würde sie es wörtlich übernehmen, aber würde ein deutscher Leser es verstehen?
    Sie war trotz ihrer Krisen nie ein Sozialfall geworden, hatte immer, zeitweise sogar in der Klinik, arbeiten können.
    Warum also gerade jetzt? Warum musste jetzt, in einer Zeit, in der sie allein und nicht stabil war, die Vergangenheit sie anfallen und nach ihr schnappen wie ein tollwütiger Hund?
    Der Kaffee ist schon seit Stunden kalt. Er hinterlässt einen bitteren, rauen Geschmack auf der Zunge. Mit den Zigaretten muss sie achtsamer umgehen. Wenn sie schreibt, verqualmen sie im Aschenbecher. Margret kommt erst Dienstag wieder, und sie hat nur eine Stange.
    Vielleicht musste es so kommen. Vielleicht war das die Strafe für ihre ewig währende Feigheit. Vor einem Jahr, als sie die Erbschaft angetreten hatte, war es ihr gut gegangen. Da hätte sie den Mut aufbringen müssen, es diesen selbstgefälligen Dörflern ins Gesicht zu sagen.
    »Ja, ja meine Kleine! Du hast deinen Papa sehr lieb gehabt.«
    Sie geht in die Küche und schüttet sich ein Glas Wasser ein.
    Sie war sich nicht mehr sicher gewesen. In all den Jahren, in denen man ihr nicht geglaubt hatte, war es ihr nicht mehr möglich gewesen zu unterscheiden. Die Erinnerungen waren verrutscht, und sie hatte ihre Sätze mit »ich glaube« begonnen. Manchmal hatte sie gedacht, alle ihre Kindheitserinnerungen seien aus einem Bilderbuch, das ihr jemand vorgelesen hatte.
    Als sie im letzten Jahr die Briefe ihrer Mutter fand, war das erschreckend und zugleich erleichternd gewesen. An den ersten Abenden danach hatten sich Lachen und Weinen abgelöst wie Licht und Schatten auf Waldwegen an einem klaren Sommertag.
    Sie konnte sich an so viele Gespräch mit Margret erinnern.
    »Mama hat dir ganz viele Briefe geschrieben. Ich habe sie dem Postboten gebracht.«
    »Aber Liebling, da irrst du dich. Deine Mutter hat mir nie geschrieben.«
    Irgendwann waren Margrets Worte die Wahrheit und sie ein bisschen verrückt. Mama hat keine Briefe geschrieben. Sie ist nicht den Weg hinuntergelaufen und hat die Briefe nicht an Onkel Klaus weitergegeben. Sie hat in jener Nacht keine fremden Männer auf der Deele gesehen. Als sie Margret von ihrem Pony erzählen wollte, hat sie plötzlich innegehalten und geschwiegen. Margret hat sie aufgefordert weiterzuerzählen, aber sie hat nur den Kopf geschüttelt. Das Pony wollte sie behalten. Das Pony sollte kein Irrtum sein.
    Nur mit ihrer Tochter hat sie noch über ihre Kindheit auf dem Behrenshof gesprochen. Und später auch über jene Nacht.
    Vielleicht kann sie Margret die Briefe deshalb nicht geben. Vielleicht muss sie sie deshalb immer wieder lesen. Weil sie ihre Zeugen sind. Weil sie ihre Erinnerungen bestätigen. Weil sie wieder eine Kindheit hat, die ihr gehört und keinem Bilderbuch entnommen ist.
    Sie geht hinüber ins Schlafzimmer und zieht die Schublade des Nachttisches auf. Da liegen sie. Sie greift hinein und zieht wahllos einen heraus.
    4. Januar 1967
    Meine liebe Schwester
,
    vielen Dank für Deinen lieben Brief. Ich freue mich, daß Karl nun beamtet ist und ihr über den Kauf eines Hauses nachdenken könnt
.
    Ich will nicht unentwegt jammern, aber Johann trinkt immer öfter und seine Wutausbrüche werden immer schlimmer. Ich habe am ganzen Körper Blutergüsse und letzten Donnerstag hat er mir einen

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