Wenn die Liebe erwacht
er sich in der Nähe seiner früheren Heimat nicht in größerer Gefahr fühlte als irgendwo sonst. Der arme Alain.
Als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, hatte eine kalte Wintersonne sein blondes Haar golden schimmern lassen und seine Wangen rot gefärbt, und er hatte jünger als seine zwanzig Jahre ausgesehen. Als sie sich ihm jetzt näherte, stellte sie entsetzt fest, wie ausgezehrt er wirkte. Auf seinem Gesicht lag eine tiefe Mattigkeit, und in seinen Augen funkelte eine Verschlagenheit, die sie wachsam werden ließ.
»Alain.« Leonie begrüßte ihn reserviert, als er sie von ihrem Pferd hob. »Ich dachte, du hättest vorgehabt, in Irland zu bleiben.«
Er lächelte bitter. »Das hatte ich auch vor, aber als ich dort ankam, mußte ich feststellen, daß meine Angehörigen ganz hinter Heinrich stehen. Niemand wagte, sein Mißfallen zu erregen, indem er mich aufnahm. Sie haben mir nur geholfen, sofort wieder aufzubrechen, kaum, daß ich angekommen war.«
»Das tut mir leid«, sagte Leonie mitfühlend, aber sie mußte zur Sache kommen. »Du hast mir nie gesagt, was dir vorgeworfen wird, Alain, und ich habe Dinge gehört …«
»Lügen«, sagte er hastig. Er lächelte freundlich. »Es ist so schön, dich zu sehen, Leonie. Geht es dir gut? Es scheint dir bei dem Schwarzen Wolf nicht übel ergangen zu sein.«
Sie antwortete steif: »Er mißhandelt mich nicht, Alain. Aber ich will nicht über ihn reden. Warum bist du hierher gekommen?«
Er wirkte geknickt. »Kannst du dir das nicht denken? Als ich von deiner Heirat hörte, habe ich mir Sorgen um dich gemacht. Ich dachte, du würdest meine Hilfe willkommen heißen.«
»Vielen Dank, Alain, aber ich brauche keine Hilfe«, sagte sie so höflich wie möglich.
»Du bist glücklich mit diesem Mann?«
Sie wandte sich betrübt ab. »Ich kann nicht sagen, daß ich glücklich bin, aber nichts kann meine Lebensumstände ändern.«
»Du könntest mit mir fortgehen, Leonie.«
Sie wandte sich verblüfft zu ihm um. Sie hatte mit dem Gedanken gespielt, zu fliehen, aber solange Rolfe nicht bereit war, sie freiwillig fortgehen zu lassen, würde er sie mit Sicherheit aufspüren. Was sie brauchte, war Schutz, und den konnte ihr Alain wohl kaum bieten.
»Wohin planst du zu gehen, Alain?«
Die Frage wurde aus reiner Neugier gestellt, doch er legte sie als Einwilligung aus.
»Du wirst deine Entscheidung nicht bereuen, Leonie.« Er lächelte und zog sie in seine Arme. »Ich schwöre dir, daß ich dich glücklich machen werde.«
»Alain!« keuchte sie und versuchte, ihn von sich zu stoßen. »Ich bin verheiratet.«
Er zog sie dicht an sich. »Ein Fehler, der bald berichtigt werden wird.«
Leonie erstarrte. »Was soll das heißen?«
»Dein Mann setzt sein Leben täglich aufs Spiel«, antwortete Alain behutsam. »Selbst jetzt führt er mit meinen Vasallen Krieg.«
»Mit den Vasallen deines Vaters.«
»Das ist dasselbe«, sagte er barsch. »Ein solcher Mann, ein Krieger, wird sterben – und zwar schon bald.«
Ihr wurde fast schlecht, als sie plötzlich verstand, was das heißen sollte. Alains erste Nachricht an sie war kurz nach dem Zeitpunkt eingetroffen, als Rolfe sich die Pfeilverletzung zugezogen hatte. Alain konnte damals schon hier gewesen und derjenige gewesen sein, der diesen Pfeil abgeschossen hatte.
»Alain«, setzte sie zögernd an, »du … du mißverstehst …«
»Sei still!« zischte er, und sein Körper spannte sich. Sie sah in dieselbe Richtung wie er und stellte zu ihrem Entsetzen fest, daß ihr Mann allein aus dem Schutz der Bäume trat.
»Sorg dafür, daß sich deine Männer aus dieser Sache heraushalten«, sagte Alain aufgeregt. »Meine eigenen Leute werden leicht mit ihm fertig.«
»Was?«
Sie sah keine anderen Männer auf der Lichtung oder in ihrer Nähe. Doch als Alain einen schrillen Pfiff ausstieß, wußte sie, daß Rolfe in Gefahr war.
»Alain! Du darfst Rolfe nicht angreifen!«
»Schweig, Leonie«, sagte Alain zuversichtlich. »Es ist ganz einfach.« Er rief über die Lichtung: »Bleib, wo du bist, d’Ambert. Du hast verloren, was dir gehörte.«
Rolfe hatte das Liebespaar, das in einer engen Umarmung dastand, bereits gesehen. Es war die Wahrheit, die er gefürchtet hatte. Er war nach Crewel zurückgekehrt, um Leonie die Wahrheit über ihren Vater zu erzählen, doch dort hatte er feststellen müssen, daß sie nach Pershwick geritten war. Dann fand er die Nachricht von Alain Montigny, die sie achtlos auf dem Schreibpult hatte liegen lassen.
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