Wenn die Seele nicht mehr leiden kann - Gewalt in der Ehe (German Edition)
seit fast einem Jahr nicht mehr mit ihm gesprochen. Ich wollte ihn anrufen und fragen, ob er kommen könne. Außerdem wollte ich ihn bitten, nach der Operation an meinem Bett zu sitzen und mir beizustehen. Lena, die wunderbare Lena, hatte versprochen, sich in der Zeit, wo ich fort sein würde, um David zu kümmern.
Ich rief in der Klinik für Schönheitsoperationen in Mindelheim an und machte einen Termin aus. Ich war überzeugt davon, schon am nächsten Tag nach der OP wieder auf den Beinen zu sein, denn Schmerzen hatte ich in meinem Leben schon genug über mich ergehen lassen, und in diesem Fall wusste ich ja, wozu sie gut waren. Sie würden mich meinem Ziel einen Schritt näher bringen.
Ich war nervös, als ich Papas Nummer wählte.
„Hallo, Papa, hier ist Luisa.“
„Ach, mein geliebtes Kind, endlich rufst du an!“
Wir sprachen kurz über das, was in letzter Zeit vorgefallen war. Papa erzählte, dass er versucht habe, Mati einen Brief ins Gefängnis zu schicken. Das gab mir einen Stich. Warum hatte er versucht, Kontakt zu diesem Ungeheuer aufzunehmen, statt zu mir? Er erklärte mir, dass er Mati in dem langen Brief gebeten habe, seiner Tochter nichts anzutun. Einerseits hoffte ich natürlich, dass sich Mati die Bitte meines Vaters zu Herzen nahm, doch andererseits war ich von der Nutzlosigkeit des Briefes überzeugt, weil Mati meinen Vater von jeher verachtet hatte. Mati hatte früher oft damit gedroht, ihn mit so vielen Schüssen zu töten, dass man sein Gehirn von der Wand kratzen müsse.
An einem warmen, sonnigen Tag Anfang Mai wurde ich von meinem geliebten Papa gegen ein Uhr mittags abgeholt.
Ich gab David einen Kuss und versprach, sehr bald wieder da zu sein. Lena sagte, er sei bei ihr in besten Händen. Ich lächelte sie an.
„Das weiß ich doch, Lena. Du bist ein Schatz!“
Ich hatte kein bisschen Angst vor dem, was mich erwartete. Im Gegenteil, ich empfand schon jetzt eine gewisse Befreiung.
Papa Albert und ich hatten uns an einer bestimmten Tankstelle verabredet. Ich spazierte mit trockenem Mund die Straße entlang, denn der Chirurg, Dr. S., hatte mir untersagt, unmittelbar vor der Operation noch etwas zu essen oder zu trinken.
Ich hätte mir gern eine Flasche Wasser gekauft. Mein Durst wurde immer schlimmer, und ein ums andere Mal schaute ich nervös auf die Uhr. Wo zum Teufel steckte er nur?
Er hätte längst da sein sollen. In diesem Moment rumpelte eine hustende Schrottkarre um die Ecke. Es war ein alter Opel, an dessen Rückspiegel ein paar Pfauenfedern befestigt waren. Ich war mir nicht sicher, ob Papa mich gleich erkennen würde. Ich war seit unserer letzten Begegnung bedeutend schmaler geworden, außerdem kannte er meine neue Haarfarbe nicht. Ich winkte ihm zu und ging quer über den Parkplatz, auf den er soeben abgebogen war. Als Papa mich im Seitenspiegel erkannte, machte er eine Vollbremsung und sprang aus dem Auto. Mein Vater besitzt eine sehr ausdrucksvolle Körpersprache. Noch bevor er den Mund öffnet, bekommt man den Eindruck, es handelte sich um einen Schauspieler, der eine dramatische Rolle einstudiert. Mit ausgebreiteten Armen stürmte er auf mich zu und schmetterte mir mit seinem sonoren Bass entgegen:
„Meine geliebte Tochter! Mögen all meine Tränen den Schmutz und den Schmerz fortspülen, der dir angetan wurde! Doch nun sind wir wieder vereint, lachen und umarmen einander, mein geliebtes Kind!“
Wie zwei alte Freunde, die sich seit Ewigkeiten nicht gesehen haben, fielen wir uns in die Arme und strahlten um die Wette. Mein Vater weinte vor Glück, und ich schmiegte mich an ihn.
„Oh, Papa, es ist so schön, dich wiederzusehen!“
Papa öffnete die Autotür, und ich nahm auf dem Beifahrersitz mit Tigermuster Platz. Im Wagen roch es nach meiner Kindheit, eine Mischung aus Weihrauch und Vanille.
„Du hast mir so gefehlt“, sagte ich. „Danke, dass du gekommen bist. Und wie gut du aussiehst!“
Papat war frisch rasiert, und seine frisch gewaschenen, dunkelbraunen Haare hatte er zu einem Mozartzopf zusammengebunden. Er trug ein weißes, gebügeltes Hemd, das allerdings etwas nachlässig zugeknöpft war, und darüber eine lässige Weste. Hätte ein Degen an seinem Gürtel gebaumelt, wäre er glatt als einer der drei Musketiere durchgegangen. Er schien meine Gedanken gelesen zu haben.
„Den Degen hab ich zu Hause gelassen, haha! Man kann sich ja heute nicht mehr bewaffnet auf der Straße zeigen“, sagte er und zwinkerte mir zu.
Ich lächelte vor mich hin,
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