Wenn die Wahrheit nicht ruht
geniessen wollte. Selbst die Seilbahnen und die Bergrestaurants verfügten über bessere Infrastruktur als Vaters Haus.
Als Sebastian den Jeep um die letzte Kurve steuerte, sah er seine Vermutung bestätigt. Neben dem Eingang stand , am Dach angelehnt , eine lange Leiter. Heinz war nirgends zu sehen, doch ahnte Sebastian bereits, wo er ihn zu suchen hatte. Er brachte den Jeep vor dem Haus zum S tehen, stieg aus und begab sich zielstrebig zur Rückseite des Gebäudes. Dort befand sich ein kleiner Schuppen, dessen Tür nur angelehnt war. Aus dem Spalt drang schwaches Licht und ein ohrenbetäubendes Geräusch. Vorsichtig schubste Sebastian die Tür auf.
„Die Telefonleitungen?“ Sebastian musste fast schreien um das Rattern des Generators übertönen zu können.
Heinz schien ihn aber gehört zu haben, denn er drehte sich wenig erstaunt von seiner Werkzeugauslage weg. „Hallo , Junge! Ich dachte mir schon, dass du bald hier antraben wirst. S o , wie das gestern getobt hat, musste es mir ja die Leitungen kappen.“ Heinz nickte in Richtung des Generators. „Diesmal hat ’ s auch gleich noch die Stromversorgung erwischt. Ausserdem klaute mir der Wind einige Ziegel vom Dach. Die müssen wieder rauf, bevor sich Wasser einschleichen kann.“
Sebastian verstand. Eigentlich war er zwar nicht hergekommen, um seinem Vater bei den Reparaturen zu helfen, doch es kam ihm nicht ungelegen. Denn vor seinem eigentlichen Vorhaben graute ihm. Seit er mit Leonie bei Heinz gewesen war, hatte sich ein ungutes Gefühl in Sebastians Magen eingenistet, das so schwer wog , als hätte er Steine gegessen. Einen Verdacht, woher dieses Gefühl kam, hatte er. Und obwohl er wusste, dass nur Klarheit helfen konnte, war er sich nicht sicher, ob er es genauer wissen wollte. Einerseits könnte es darauf hinaus laufen, dass er sich anschliessend fühlte, als lasteten nicht mehr nur Steine, sondern das ganze Matterhorn schwer auf ihm . Andererseits wäre es auch möglich, dass sich alles in Wohlgefallen auflöste. Inständig hoffte er auf die zweite Variante, vermutete jedoch, dass eher die erste zutraf. Also beschloss Sebastian die Angelegenheit noch etwas aufzuschieben. Er schnappte sich den Werkzeuggürtel vom Haken an der Wand und schnallte ihn um. „Alles klar. Ich kümmere mich um die Ziegel. Wir sehn ’ uns auf dem Dach.“
Die Arbeiten dauerten länger, als geahnt. Aber keinem der beiden schien dieser Umstand etwas auszumachen. Es herrschte wunderbare Stille, nur das Klopfen und Hämmern hallte durch den Wald. Erst jetzt, da Sebastian nach und nach ruhiger wurde, bemerkte er, wie aufgewühlt er eigentlich gewesen war.
Kurz hielt er inne und liess den Blick über das Dach schweifen. Der Sturm hatte mehr Schaden angerichtet als vermutet . Sebastian fragte sich, wie er das Unwetter hatte verpassen können. Offensichtlich war er gestern so tief in das Studium des Ordners vertieft gewesen, dass er von den Vorkommnissen draussen nichts mitbekommen hatte. Ob es d e n anderen wohl genauso ergangen war?
Ohne den Klang der Werkzeuge war es so still, dass man meinen könnte, die schlafenden Tiere atmen zu hören. Doch in dem Moment , als er sich wieder an die Arbeit machen wollte, sah er im Augenwinkel eine Bewegung. Instinktiv umfasste er sein Werkzeug fester.
Dann plötzlich, ein Rascheln im Unterholz. Was es auch war, es war ganz nahe.
Verunsichert sah Sebastian zu seinem Vater auf. Er hatte es auch gehört, denn er blickte in dieselbe Richtung.
Beide schwiegen und lauschten. Aber alles blieb ruhig. Heinz wandte sich zu Sebastian um. Er wirkte irgendwie angespannt. Seine Mundwinkel deuteten ein nervöses Lächeln an.
„Man müsste meinen , n ach s o vielen Jahren hier draussen erschreckt mich nichts mehr! Das war bestimmt nur ein Kaninchen. Komm , Junge, wir gehen rein. Wir sehen sowieso kaum mehr was, seit die Sonne hinter den Bergen verschwunden ist. Den Rest schaff ich morgen auch alleine.“ Ohne ein Antwort abzuwarten, machte sich Heinz an den Abstieg. Sebastian folgte ihm wortlos. Da war es wieder, dieses ungute Gefühl .
„Hast du H unger?“ Heinz streifte sich seine Schuhe ab und ging schnurstracks in die Küche. Dort öffnete er den Kühlschrank und zog eine grosse Schüssel he raus. Den Inhalt schüttete er in einen Kochtopf und machte den Herd darunter an. Sebastian legte seine Schuhe und seine Jacke ebenfalls ab, blieb aber im Wohnzimmer. Aus reiner Gewohnheit nahm er einige Holzscheite und heizte den Kamin neu ein.
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