Wenn die Wahrheit nicht ruht
dass sie total auf Rettungssanitäter stand, erst recht auf solche , die gross , gut trainiert , blond und grauäugig waren. Da es davon nicht besonders viele gab, musste man kein Genie sein, um zu merken, dass Schwester No ë lia ein ganz besonderes Augenmerk auf Timo geworfen hatte. Natürlich fühlte sich Timo ein wenig geschmeichelt, allerdings ging i h m das Werben und das ständige Abtasten, wie es denn in seinem Privatleben aussah, ziemlich auf den Geist. Wenigstens war sie hübsch anzusehen in ihrem weissen Kittelchen. Interessanterweise hatte sie auch eine gewisse Ähnlichkeit mit Angela, aber sie war lange nicht so umwerfend und – was noch viel schwerer wog – sie war nicht Angela. Es fiel Timo also nicht schwer, Noë lias Herz ein weiteres Mal zu brechen. „ Ja , meine liebe Noë lia, zuhause ist alles in best er Ordnung. Ich habe nur etwas K leines zu erledigen, bevor meine Schicht anfängt, das ist alles. Aber wo wir schon mal so nett plaudern, ist Armin in der Leichenhalle?“
Mit einem Gesicht, als hätte sie in eine sa ure Zitrone gebissen, nickte Noë lia und wies mit dem Kopf auf die silberne Flügeltür . „Vor zehn Minuten ging er nach hinten .“
Timo zer rte ein charmantes Lächeln aus seinem Freundlichk eitssortiment und zündete in Noë lias Gesich t auf Knopfdruck die zuvor er loschene Lampe wieder an. Egal, wie er zu ihr stand, Kontakte musste ma n pflegen, schliesslich konnte man nie wissen, wann man sie brauchte.
Er wandte sich in die angewiesene Richtung und drückte die Flügelt üren mit beiden Händen auf . Er wanderte den langen, mit Neonröhren schwa ch ausgeleuchteten Gang entlang , bis zu einer weiteren Flügeltür. Jedes Mal , wenn Timo hier hinten war, fragte er sich, ob es ein Gesetz gab, das Architekten zu der horrorfilmähnlichen Aufmachung dieser Räumlichkeiten verpflichtete . Timo stiess die zweite F lügeltür mit beiden Händen auf und fand sich schliesslich in einer weitläufigen Halle wieder. Die Wände der Halle waren gesäumt mit verchromten Schränken, die wie Industriekühlschränke mit viel zu kleinen Türen aussahen. I n der Mitte der Halle standen einige Rollbarren, bedeckt mit weissen Baumwolltü chern. In der Halle war es kühl. Timo fröstelte.
„ Armin ?“ Viele Rückzugsmöglichk eiten gab es in der Halle nicht. B ewegte sich also nichts, war das in den meisten Fällen gut, für Timo derzeit aber eher schlecht. Dann plötzlich flog mit einem Ruck die Tür hinter Timo auf. Das Geräusch hallte derart unerwartet durch den sonst so stillen Raum, dass Timo erschrocken herumwirbelte.
„Ach was. Sieh an, Besuch , der auf seinen eigenen zwei Beinen den Weg hierher fand! Bist aber immer noch gleich schreckhaft wir früher, hm?“ Armin schnaubte vor Bel ustigung. Niemals würde er zugeben, dass er sich ob des unangekündigten , lebenden Besuch s selbst etwas erschrocken hatte.
Er musterte Timo über den Rand seiner tief auf der Nase sitzenden Brille hinweg. „Was führt dich ohne einen N euen für meine bescheidene Sammlung hierher?“
Timo störte sich nicht an der unsanften Ausdrucksweise von Armin . Er ging eher davon aus, dass das seine Art war, die nötige Distanz zu seiner Aufgabe zu schaffen, sonst könnte er sie wohl kaum ausführe n und schon gar nicht während so lange r Zeit. Schon bald nach Beginn seiner Ausbildung lernte Timo Armin kennen . Timo war einer der Studenten, die sich würgend verabschiedet hatten , als es darum ging, bei der Sezierung eines Menschen zuzusehen. Auch nachdem die Stunde schon lange vorbei gewesen war, sass Timo, noch ganz grün im Gesicht , auf der Bank vor dem Krankenhaus. Armin hatte ihn damals gefunden und sich neben ihn gesetzt. Anfangs schwieg er, dann sagte er etwas, woran Timo sich bis heute erinnerte und daran festhielt. „ Ein Verletzter auf der Bah re ist dasselbe wie für einen Sanitär das verstopfte Rohr oder für ein en Automechaniker das Fahrzeug. Hat ein Auto einen Defekt, versucht der Mechaniker ihn zu reparieren, während der Besitzer um sein Ein und Alles bangt. Kann der Mechaniker das Auto reparieren, ist der Besitzer glücklich. Ist der Schaden irreparabel, ist der Besitzer das heulende Elend, während der Automechaniker bereits nach den Ersatzteilen schielt. Klingt herzlos , nicht? Aber e s heisst nicht umsonst, ‚einen kühlen Kopf bewahren‘, oder?“ Dann war er aufgestanden und seiner Wege gegangen , genauso, wie Timo seiner Wege ging, bis sie sich hier wieder kreuzten.
„ Ich bin
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