Wenn die Wahrheit nicht ruht
könne einfach nicht tanzen.“
Als plötzlich der Mopp durch eine Hand ersetzt wurde, blieb Leonie die nächste Frage im Hals stecken. Sie wurde einmal herumgewirbelt, doch bevor sie unkontrolliert an den Körper vor sich prallte, wurde sie von zwei kräftigen Armen mit leichtem Druck in perfekter Position zum Stehen gebracht. „ Oh hoppla …“ Leonie war sich nicht sicher, ob sie selbst das sagte oder ob es Angela war, denn sie wirbelte bereits wieder durch den Raum. Während Sempre, Sempre aus den Lautsprechern dröhnte, legte Sebastian einen formvollendeten Discof ox aufs Parkett. Auf die letzten Töne des Liedes bedeutete er Leonie noch einmal eine Drehung zu machen, zog sie dann aber in halber Bewegung zu sich, bog sie über seinen Arm nach Hinten und ging selbst mit seinem Oberkörper mit. Exakt zum Ende des Songs stand er so nah über sie gebeugt, dass sie seinen Atem in ihrem Gesicht spüren konnte. Er sah ihr direkt in die Augen, was in Leonie ein unerklärliches Prickeln auslöste, das sie mit einem schweren Schlucken zu beseitigen versuchte. So schnell wie alles gekommen war, so schnell stellte Sebastian sie auch wieder auf die Beine, drückte ihr den Mopp in die Hände und ging, ohne auch nur einen Ton von sich gegeben zu haben.
1986
Besorgt die Hände ringend marschierte Marlene den Flur hinauf und wieder hinunter. Bei jedem Geräusch zuckte sie zusammen, immer in der Hoffnung es könnte die Haustüre sein, die sich öffnet. Draussen war der Mond umrahmt von seinen Sternen schon lange aufgegangen, der Braten war inzwischen angebrannt und das Kartoffelwasser übergekocht, während die gedünsteten Bohnen eine Temperatur erreichten, mit denen man sie bestenfalls noch zu Hühnerfutter verarbeiten konnte. Als die Kuckucksuhr im Wohnzimmer Elf schlug, hielt sie es nicht mehr aus. In ihrer Verzweiflung griff sie zum Telefon und wäh lte die erste Nummer, die ihr einfiel. Eine Frauenstimme meldete sich, die Marlene hastig unterbrach. Es war ihr egal, dass die Frau daraufhin verächtlich schnaubte. S ich auch noch mit Höflichkeiten aufzuhalten, dafür hatte Marlene keine Nerven mehr. Den Hörer mit beiden Händen umkrallt, forderte sie den gewünschten Gesprächspartner. Sie konnte mitanhören, wie die Frau, Marlenes Meinung nach war es Juanita, die Haushälterin, nach ihrem Chef rief.
„Bin ja schon da.“ Erst noch dumpf, weil er die Hand über die Muschel hielt, war seine Stimme jetzt deutlich zu vernehmen. „Was hast du mit Juanita gemacht? Die ist gerade ziemlich entrüstet an mir vorbeigestapft.“
„Ich habe sie nicht ausreden lassen. Das gehört sich nicht, ich weiss, aber es ist nun einmal wichtig.“
Bedauernd, dass nun seine Sendung im Radio ohne ihn weitergehen musste, lehnte er sich gegen die Wand und machte sich auf den neusten Dorfklatsch bereit. Insgeheim überlegte er sich, welche r der ach so entsetzlichen Nachbarn es sich heute erlaubt hatte, in der Metzgerei im Tal anstelle von der im Dorf einzukaufen. „Was ist de n n passiert?“
„ Josef ist verschwunden.“ Es platzte nur so aus Marlene heraus.
Diese Geschichte war allerdings neu. S ich gleich darauf einzulassen, wäre dennoch äusserst blauäugig gewesen. Möglicherweise hatte Josef nur den Jassabend etwas zu sehr begossen. Und genau das bekam Marlene jetzt auch zu hören. „Heute ist doch sein Jassabend, meinst du nicht, er hat ein fach die Zeit vergessen? Du weiss t doch, wie gut ihm der Wein immer schmeckt, wenn er verliert. Und er verliert oft.“
Jetzt wurde Marlene wütend. Empört, beinahe hysterisch, schrie sie ins Telefon. „Er ist seit gestern Morgen weg!“
Nun war die Radiosendung vergessen. Hans Zumbrunn, ein Bär von einem Mann, richtete sich zu seiner vollen Grösse auf und zog verwundert seine buschigen Augenbrauen zusammen. Die darunterliegenden kleine n , aber wachen , graue n Augen blitzten i nteressiert auf . Trotz seines beachtlichen Bauch es , den er unter seinem blauen Hemd stolz zur Schau trug , war er einer der eindrucksvollsten und begehrtesten Männer im Dorf. Dies hatte er sicherlich seiner Körpergrösse , aber auch seiner Haltung zu verdanken. Alleine durch sein Auftreten bewirkte er, dass keiner seiner Mitbürger von ihm getroffene Entscheidungen in Zweifel zog. Ob ihn das im Endeffekt zum Gemeindepräsidenten machte oder ob dieser Posten seine Wirkung nur noch verstärkte, vermochte niemand mehr zu sagen . „Seit gestern , sagst du? Das ist wirklich eher ungewöhnlich. Hat er
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