Wenn die Wahrheit nicht ruht
Bitte, hör auf!“ Ihre Stimme klang schrill, beinahe panisch. Und als hätte dieser Umstand einen Schalter umgelegt, liess er derart unvermittelt von ihr ab , dass sie taumelte und fast stürzte . G enauso entsetzt wie sie ihn anstarrte, schaute er auf seine Hände. Eine tiefe Abscheu über sich selbst kroch wie Ungeziefer in ihm hoch und krallte sich kalt und eklig an seiner Seele fest . „ Alina , ich… bitte, es tut mir leid, ich weiss nic ht was über mich gekommen ist.“
Er stolperte auf Alina zu, wollte sie halten, sich entschuldigen, doch sie wich vor ihm zurück. In ihren Augen standen weder Angst noch Schrecken, sondern reines Mitlei d und Bedauern . Und dann begriff er . Sie wäre mit ihm gegangen. Sie war hier um ihn zum Gehen zu bewegen und um herauszufinden, ob er sie mitnehmen würde. Das einzige, was ihn wirklich zurückgebracht hatte und ihn hier hielt, hat te er nun selbst zerstört.
Auf einmal fühlte er sich einfach nur noch hohl und leer. Alina stand bereits in der offenen Tür und wagte noch einmal einen betrübten Blick zu Ambros.
„ In einer Stunde bin ich weg .“
„Wie hat es nur soweit kommen können?“
So gern er es ihr auch erklärt hätte, er wusste es selbst nicht, also schüttelte er nur den Kopf. Als sich die Tür hinter ihr schloss, liess sich Ambros schwer auf das Bett sinken, bevor er sich daran machte, sein Versprechen einzulösen und dem Dorf für immer den Rücken zu kehren.
2010
Wörtlich von der Sonne wach gekitzelt öffnete Leonie die Augen. Trotz aller Widrigkeiten hatte sie diesen Ort erstaunlicherweise irgendwie ins Herz geschlossen und sie stellte fest, dass sie diese Tatsache entgegen ihrer Erwartung keineswegs ängstigte.
Während sie noch darüber nachdachte, ob dieser Umstand dem seit ihrer Ankunft beinahe durchwegs guten Wetter zu verdanken war oder ob es einen anderen Grund gab, hielt sie die Arme von sich und wollte sich genüsslich strecken, was sie s ogleich bereute . In Windeseile zog sie ihre Arme wieder zurück und dachte kurz darüber nach, ihre Meinung über das Dorf doch noch zu revidieren.
Mit gequältem Gesichtsausdruck stand sie vorsichtig auf und schlurfte aus dem Zimmer, wo sie nicht nur von verlockenden Ge rüchen nach Kaffee und Rührei empfangen wurde.
„Ah, sieh an, wie geht es denn unserer Patientin ?“ Sebastian reichte Leonie eine dampfende Tasse Kaffee und wies sie an, sich zu setzen, während er sich wieder den Eiern zuwandte. Ihn verstohlen musternd schob sie sich mit bedächtigen Bewegungen auf den Hocker an die Theke.
„Nun, irgendwie bin ich wohl noch etwas steif, aber ich muss zugeben, Angelas Gästebett ist himmlisch.“
„Hab ’ ich es nicht gesagt? Aber nein, ich musste erst mit Gewaltanwen dung drohen, ehe du nachgabst.“
Nachdem Sebastian und Leonie am Abend zuvor ins Dorf zurückgekehrt waren, ha tte Leonie darauf bestanden, in ihr Hotel zimmer gebracht zu werden. Sebastian hatte ihrem Wunsch entsprochen, doch keine Sekunde daran gedacht, sie dort alleine zu lassen. Nachdem er dann allerdings erkannte, dass neben dem grossen Doppelbett keinerlei weiche Übernachtungsalternative existierte, informierte er kurzerhand Angela d a rüber, dass sie vorübergehend einen Gast haben würde, ohne dem Protest des besagten Gastes Beachtung zu schenken.
„Was tust du eigentlich hier?“ Leonie trank einen Schluck, verbrühte sich aber prompt die Zunge.
„ Kochen, schätze i ch. Ich hoffe, du magst Rührei “, sagte er und setzte bereits einen gefüllten Teller vor Leonies Nase ab. Es war unmöglich , diesem würzig süsslichen Geruch zu widerstehen, also entschied Leonie, keinen Widerstand zu leisten und stopfte sich die erste beladene Gabel in den Mund. „Wo sind denn die anderen?“
„Einkaufen. Ich habe mich freiwillig zum Babysitten gemeldet.“
„Die Kinder sind noch da?“ Sebastians hochgezogene Augenbraue war Antwort genug. „Ach, du meinst mich?“ , setzte sie empört nach und stopfte sich eine weitere Portion in den Mund. „Ich brauche keinen Babysitter.“
Aber auch diese Auseinandersetzung verlor sie. Entsprechend verliessen nach dem Frühstück beide gemeinsam das Haus. „Das ist wirklich lächerlich. Es ist helllichter Tag und die Strassen sind bevölkert. Jetzt wird mich kaum jemand angreifen wollen.“
„So wird es wohl sein. Deshalb kann ich dir ja nun auch sagen, dass ich einfach sichergehen wollte, dass du ein vernünftiges Frühstück bekom mst und keinerlei aufseherische
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