Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition)
Kinder gerade aufhalten?«
Das wusste ihre Mutter genau, und nicht nur um zehn, sondern rund um die Uhr. Sie achtete auf ihre endlosen kleinen Ärgernisse und Kümmernisse. Sie beherzigte alle Ratschläge, die man guten Eltern erteilte: Sie sprach mit ihr über Drogen und die Gefahren des Rauchens, hatte ein Auge auf ihren Zugang zum Internet, um sie vor den Übergriffen zu schützen, die ihr online drohen konnten. Wenn sich also die seltene Gelegenheit ergab, ein Ziel unbemerkt von ihrer Mutter zu erreichen, konnte sie nicht umhin, ein Gefühl des Triumphs zu empfinden.
»Es muss schwierig gewesen sein, nach so langer Zeit die Adressen ausfindig zu machen«, sagte Neve mit einem anerkennenden Lächeln.
»Recherche«, erwiderte Mickey stolz. »Das ist das Gute daran, wenn man deine Tochter ist – dank deiner vielen Kataloge über Künstler mit kaum bekannten Biographien habe ich gelernt, Spuren zu verfolgen.«
»Und du hast alle fünfundfünfzig ausfindig gemacht?«
»Ich habe mich an das U-Boot-Archiv gewandt. Und erklärt, dass ich den noch lebenden Angehörigen der Besatzung von U-823 schreiben möchte. Das Archiv dient als Kontaktbörse für alle, die etwas über sie erfahren möchten oder etwas wissen.«
»Zuerst fürchtete Mickey, dass sich niemand melden würde«, meinte Shane. »Weil sie Amerikanerin ist und die Männer hier starben.«
Mickey nickte, versuchte zu lächeln. Sie hatte ihm gestern Abend alles haarklein erzählt, als sie die Eulen beobachtet und daran gedacht hatte, was Joe O’Casey über seinen Bruder und den Krieg berichtet hatte.
»Aber sie haben geantwortet!«, sagte Neve.
Mickey nickte. »Inzwischen ist viel Zeit vergangen; sie schienen sich sogar zu freuen, dass sich überhaupt noch jemand dafür interessierte.«
»Was sind das für Leute?«
»Töchter, Söhne, ein paar Enkelkinder der Verstorbenen; ich habe auf Englisch geschrieben, und sie haben auf Englisch geantwortet.« Mickey hatte vorgehabt, so viele Zuschriften wie möglich zu sammeln und sie Senator Sheridan zu überreichen. Der Plan war ihr anfangs so gut vorgekommen. Doch da sich die Ereignisse inzwischen überschlugen, der Kran bereits eingetroffen und einsatzbereit war, konnten sie nicht mehr so lange warten.
»Seltsam, wenn sich jemand ein neues Leben aufbaut und plötzlich durch so einen Brief von der Vergangenheit eingeholt wird«, meinte Shane. »Ich könnte mir vorstellen, dass einige der Betroffenen lieber einen Schlussstrich unter alldem ziehen möchten.«
»Wie Damiens Töchter«, sagte Mickey traurig. »Mom, was glaubst du, warum sie nicht zur Ausstellung gekommen sind?«
»Keine Ahnung, Schätzchen. Jede Familie ist anders.«
Ja, dachte Mickey, aber alle Familien sind auch irgendwie gleich. Sie saß auf dem Beifahrersitz und blickte aus dem Fenster, als sie sich dem Strand näherten. Vielleicht wusste sie, warum sie nicht gekommen waren. Manche Dinge waren schwer zu verkraften; schaudernd stellte sie sich ihren Vater im Gefängnis vor. Vielleicht hatten Damiens Töchter ihren Vater über alles geliebt, aber vielleicht hatte er ihnen auch das Herz einmal zu oft gebrochen. Seit die Briefe aus Deutschland eintrafen, wusste sie, dass Kinder ihre Eltern auf unterschiedliche Weise liebten. Und es spielte dabei keine Rolle, wie alt die Kinder waren.
Neve fuhr auf den Parkplatz der Rangerstation, wo Mr. O’Casey bereits wartete. Joe war ebenfalls schon da und unterhielt sich mit seinem Sohn. Mickey hielt den Atem an und sah sich nach einem anderen Wagen um. Sie hatte gehofft, dass Mrs. West kommen würde. Neve hatte Shane gebeten, bei seiner Mutter anzurufen, damit sie ihm den Tauchgang erlaubte; er hatte sie mit seinem Anruf aufgeweckt. Sie hatte ja gesagt, und ihn ermahnt, vorsichtig zu sein.
Shane hatte zwar nichts gesagt, aber sie wusste, dass er gehofft hatte, sie würde herkommen und zuschauen. Sie wollte bald wieder nach North Carolina fahren und ging wohl davon aus, dass er sowieso den ganzen Tag zu tun hatte, da der Sommer vor der Tür stand. Mr. O’Casey hatte ihm einen Job angeboten, er sollte den Strand harken – auch nachdem die neunzig Tage Gemeindearbeit herum waren. Natürlich hatte er zugesagt; ein Job in der frischen Luft war besser als der Job im Surfladen. Deshalb hätte es ihn besonders gefreut, wenn seine Mutter heute gekommen wäre.
»Es tut mit leid, dass deine Mutter nicht da ist«, sagte Mickey und nahm seine Hand, als sie zur Station gingen.
»Sie mag den Strand nicht.
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