Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition)
einen Ersatz für mich suchen. Warum?«
»Ich möchte mit dir an den Strand.«
»Ich muss nach Hause und anschließend Mickey und Shane abholen. Gott sei Dank ist heute Samstag, weil sie mit Sicherheit keine Lust haben werden, zur Schule zu gehen.«
»Bring die beiden mit, ja?« Er küsste sie abermals. »Shane und ich werden tauchen gehen.«
»Wie …«
»Wie Frank und ich.«
»Ich hole die Kinder sofort.« Neve küsste ihn ein letztes Mal, dann stand sie auf.
Um diese Zeit war es immer windstill, und der heutige Tag bildete keine Ausnahme. Die einzigen Geräusche stammten von den Vögeln und den Wellen. Tim hätte es niemals laut ausgesprochen – an diesem Morgen sowieso nicht –, aber er vermisste das Tosen des Sandsturms.
Er vermisste, was Frank in seinem Zelt am anderen Ende der Welt gehört hatte, nicht die Wüstenmusik, sondern die Strandmelodien, als er seinen letzten Brief an den Vater geschrieben hatte, der ihn für immer und ewig und über alle Maßen liebte.
28
M ickey und Shane hatten die ganze Nacht die Eulen beobachtet, bis ihnen die Augen zugefallen waren. Sie lagen in ihren Schlafsäcken auf dem Fußboden der Scheune und wachten erst auf, als Neve sie sanft rüttelte und fragte, ob Shane Lust hätte, tauchen zu gehen. Er war aufgesprungen, mit einem Schlag hellwach. Und Joe O’Casey würde ebenfalls dort sein – er hatte sich mit Damiens ehemaligen Kameraden am Strand verabredet, um ihnen die Stelle zu zeigen, an der U-823 lag, aber zuerst sollte er das Boot steuern, das die beiden Taucher aufs Meer hinausbringen sollte.
Auf dem Weg zum Strand hatten sie die Stadt durchquert. Beide, sowohl Mickey als auch Shane, waren hier geboren. Sie kannten jede Straße wie ihre Westentasche. Als sie am großen Deich unweit der Helling entlangfuhren, auf der die Boote zu Wasser gelassen wurden, hatte Mickey beim Anblick des Schleppkahns mit dem gelben Kran ein Gefühl, als läge ihr ein Stein im Magen.
»Schau mal, da steht er, in Wartestellung«, sagte Shane.
»Als wenn Mr. Landry ihn absichtlich dort festgemacht hätte, direkt vor unserer Nase«, klagte Mickey.
»Scheint ein aufregender Anblick zu sein. Sieh dir mal die vielen Schaulustigen an.«
Er hatte recht. Mickey sah zahlreiche Autos, die am Deich parkten, Menschen, die mit Kaffee und Donuts aus der Bäckerei kamen, in Grüppchen beisammenstanden, den Kran in Augenschein nahmen und sich unterhielten. Andere kamen mit dem Boot; sie fuhren in weiten, langsamen Kreisen um den Schleppkahn herum, neugierig und bemüht, einen besseren Blick darauf zu erhaschen.
»Wieso merken sie nicht, wohin das führt?«, sagte Mickey.
»Vielleicht wird es ihnen ja irgendwann noch bewusst«, erwiderte Neve.
»Aber die Zeit läuft uns davon. Der Kran wird das U-Boot in Kürze heben und dann ist es weg, auf Nimmerwiedersehen.«
»In kurzer Zeit kann viel geschehen«, erklärte Neve ruhig. »Denk an die Schneeeule.«
Mickey schwieg. Sie blickte ihre Mutter an, die glücklich aussah und aufgewühlt, als hätte sie ein Geheimnis. Vielleicht hatte es mit der ungeheuer erfolgreichen Eröffnung der Ausstellung gestern Abend zu tun, oder weil Mr. O’Casey und sie sich wieder vertragen hatten. Wie auch immer, sie bezweifelte, dass in der wenigen Zeit, die ihnen blieb, genug passieren würde, um das U-Boot zu retten.
»Das ist für dich gekommen.« Neve reichte ihr einen blauen Umschlag.
Mickey nahm ihn; er musste gestern mit der Post gekommen sein, nachdem sie zur Galerie gefahren waren – er stammte aus Berlin, wie aus der Anschrift des Absenders hervorging.
»Wieder einer?«, fragte Shane vom Rücksitz aus.
»Ja.« Sie reichte ihm den Umschlag.
»Ein Brief aus Deutschland?«, erkundigte sich Neve.
»Der elfte.«
»Mickey hat fünfundfünfzig Briefe abgeschickt, an alle Familien, die Angehörige an Bord des U-Boots hatten«, sagte Shane.
»Ich erinnere mich. Ich wusste nur nicht, dass sie tatsächlich zurückgeschrieben haben.«
Mickey spürte, dass ihre Mutter sie ansah. Es kam nicht oft vor, weil sie sich so sehr nahestanden – aber hin und wieder gelang es ihr, Neve zu überraschen. Vielleicht lag es daran, dass sie schon lange alleine lebten – Mickeys Vater wohnte schon seit langem nicht mehr bei ihnen. Neves Aufmerksamkeit schien nichts zu entgehen – als hätte sie alle einschlägigen Bücher gelesen und ihre Konsequenzen aus dem Werbespot im Fernsehen gezogen, in dem es hieß: »Es ist zehn Uhr abends – wissen Sie, wo sich Ihre
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