Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition)
als sie Windpocken hatte und als ihre Großmutter starb.«
»Ein gewissenhaftes Mädchen.«
»Extrem gewissenhaft.« Neve lächelte, wobei ihre Miene zum ersten Mal, seit sie die Tür geöffnet hatte, weicher wurde – seit er ihr begegnet war, genauer gesagt. Ihr Lächeln brachte ihn aus der Fassung. Er blickte sie gebannt an und fragte sich, wieso er dermaßen durcheinander war. Lag es daran, dass die meisten Menschen, denen er in letzter Zeit begegnete, so ernst aussahen? Wer sich im Winter für Strände begeisterte, gehörte eher zu dem Menschenschlag, der zu Melancholie und Zurückgezogenheit neigte, er selbst eingeschlossen. Und der Junge – Shane West.
Neve stand da, die Arme vor der Brust verschränkt, als wollte sie sich wärmen. Ihr Lächeln hielt an, berührte ihre Lippen und die Winkel ihrer strahlenden Augen, die plötzlich einen verdutzten Ausdruck annahmen.
»Ach ja.« Er zog das Päckchen unter seinem Arm hervor, reichte ihr das in Vogelpapier eingewickelte Buch. »Der Grund meines Besuchs. Eine Kleinigkeit für Mickey, und richten Sie ihr doch bitte aus, ich hoffe, dass sie schnell gesund wird, und dass ich mich freuen würde, wenn sie wieder mal an den Strand kommt.«
»Vielen Dank; nett, dass Sie an Mickey gedacht haben. Ich bin sicher, sie wird sich sehr über das Geschenk freuen.«
»Sie hat mir erzählt, dass Sie die Liebe zum Strand und zur Natur von Ihnen hat.«
»Das liegt bei uns in der Familie. Meine Mutter hat diese Liebe an mich weitergegeben – und an Mickey. Als Mickey klein war, haben wir immer gemeinsam Ausflüge an den Strand unternommen. Das machen wir heute noch, zu zweit. Ich rechne damit, dass sie mir demnächst eröffnet, zu alt dafür zu sein, aber bisher ist nichts dergleichen passiert.«
»Manche Kinder bewahren die Liebe zur Natur ein ganzes Leben lang«, erwiderte Tim mit schwerem Herzen.
»Das ist ein Geschenk des Himmels.« Ihre Miene war ernst, doch ihre Augen blitzten, als hielte sie diese Gabe in ihrem Inneren, in ihrem Herzen verschlossen. Doch sie offenbarte sich in ihrem Gesichtsausdruck und ihrer Haltung.
»Stimmt«, sagte Tim. »Es überrascht mich, dass ich Sie noch nie am Strand gesehen habe. Ich arbeite schon lange dort und habe mir eingebildet, alle Leute zu kennen, die im Winter regelmäßig zum Refuge Beach kommen.«
Neve schüttelte den Kopf. »Wir haben unsere besonderen Stammplätze … noch abgelegener als die Bereiche, durch die Sie patrouillieren.«
Tim nickte. Neve und Mickey erkundeten den Strand, so wie Frank und er es gemacht hatten. Sie waren unzählige Male an der Gezeitenlinie entlanggewandert, jedes Jahr, bis zu dem Sommer, als sein Sohn fortmusste. Die Erinnerungen an ihn waren so intensiv und erschütternd, dass er das Gefühl hatte, eine Schallmauer zu durchbrechen. Er runzelte die Stirn, als er merkte, dass er diese Gedanken nicht verscheuchen konnte, sosehr er sich auch bemühte.
»Was ist?«, fragte sie.
»Nichts.« Es fiel ihm schwer, die Worte zurückzuhalten – schließlich ging es ihn nichts an, es gab keine zwei Familien, die sich aufs Haar glichen. Aber diese Frau und Mickey waren ihm wichtig – er hatte das Mädchen auf Anhieb ins Herz geschlossen, da draußen auf dem gefrorenen Strandweg, als er ihr gebrochenes Handgelenk sah und hörte, wie sie von der Schneeeule sprach.
»Geht es um den Strand?«, hakte sie nach. »Gibt es Stellen, die wir meiden sollten?«
»Es hat nichts mit dem Strand zu tun.« Er kniff die Augen zusammen. »Halten Sie sich von den Gerichten fern. Egal, welche Differenzen zwischen Ihrem Mann und Ihnen bestehen, versuchen Sie, Ihre Probleme alleine zu lösen – um Mickeys willen. Sie haben unendlich viel zu verlieren …«
Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich augenblicklich. Ihre Wangen wurden feuerrot, zuerst vor Verlegenheit, dann vor Zorn, und er wusste, dass er wieder den gleichen Fehler begangen hatte. Er hätte sie gerne beschwichtigt, ihren Arm berührt, ihr erzählt, was ihn zu einer solchen Bemerkung bewogen hatte, nur damit ihr sanfter Blick zurückkehrte. Aber sie war viel zu wütend; sie umklammerte das Päckchen und wich zurück.
»Ich gebe es Mickey«, sagte sie und machte Anstalten, ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Er trat einen Schritt vor, hinderte sie daran.
»Ich …« Die Worte blieben ihm im Hals stecken, er brachte sie nicht über die Lippen.
»Sie haben jetzt zum zweiten Mal versucht, mir vorzuschreiben, was ich in Bezug auf meinen ›Mann‹,
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