Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition)
gemacht, den Reißverschluss seiner Jacke hochzuziehen.
Shane schüttelte den Kopf. »Am ersten Frühlingstag.«
»Wer war bei ihm?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort bereits kannte.
»Wir. Meine Mutter und ich.«
»Das tut mir leid.«
Er schüttelte den Kopf. »Das muss es nicht. Ich bin froh, dass er nicht alleine war, als er starb. Wir sahen noch, wie er die perfekte Welle erwischte, sich auf dem Brett aufrichtete, und plötzlich war er weg, untergegangen. Er kam nicht wieder an die Oberfläche. Meine Mutter schwamm hinaus, suchte nach ihm.«
»Hat sie …?«
Shane blickte mit flammenden Augen aufs Meer hinaus. »Nein, sie hat ihn nicht gefunden. Weder sie noch sonst jemand.«
»Shane, das ist sehr traurig.«
»Ja. Als ich alt genug war und mit dem Fahrrad zur Schule fahren durfte, habe ich oft den Unterricht geschwänzt. Meine Mutter sah mir nach, wenn ich losfuhr, und dachte, ich sei auf dem Weg in die Woodland Elementary. Stattdessen drehte ich heimlich um und kam an den Strand, um meinen Vater zu suchen. Das war das Jahr, als ich nicht versetzt wurde.«
»Ich erinnere mich. Das Jahr, als du plötzlich in meiner Klasse warst.«
»Das war der Grund. Meine Mutter nahm mir das Fahrrad weg, in der Hoffnung, ich würde nicht mehr schwänzen und erneut sitzenbleiben.«
»Hast du aufgehört, ihn zu suchen?«
Shane nickte. »Ich habe mir eingeredet, dass ihn die Welle bis nach Kalifornien getragen hat; er sprach immer von seinem Wunsch, an die Half Moon Bay zu ziehen, am Maverick’s zu surfen.«
»Maverick’s?«
»Ein Surferparadies, nach irgendeinem Hund benannt. Ich wollte auch immer einen Hund und hätte ihn Maverick genannt. Meinem Dad hätte das sicher gefallen.«
Mickey nickte. Sie dachte an ihren eigenen Dad, der ihr fortwährend einen Hund versprochen hatte. Er wollte mit ihr zu einer Zuchtfarm fahren, die er kannte, und dort sollte sie sich einen Welpen aussuchen. Sie hatte sich vorgestellt, wie sie lange Spaziergänge am Strand unternahmen, Vater und Tochter, während der Hund vorauslief und die Gezeitenlinie erkundete. Daraus war nie etwas geworden.
Sie blickte Shane an und sah, wie er ein Zittern unterdrückte.
»Am ersten Frühlingstag«, sagte sie. »Muss immer noch ziemlich kalt gewesen sein.«
»Ja, aber die Sonne schien. Daran erinnere ich mich genau, und diese Kombination liebe ich noch heute – klirrende Kälte und Sonnenschein.«
»Du hast mich an der Straße warm gehalten, nach meinem Fahrradunfall.« Vorsichtig – instinktiv und ohne lange nachzudenken, sonst hätte sie sich niemals getraut – legte sie den Arm um ihn. »Dir war bestimmt kalt an dem Tag, als dein Vater ertrank, aber jetzt musst du nicht mehr frieren …«
Shane saß stocksteif da, als wollte er sich ihrem Griff entziehen. Doch er tat es nicht – sondern rückte vielmehr näher und legte seine Arme um sie. Mickeys Herz klopfte zum Zerspringen. Sie hörte sogar Flügelschläge und spürte einen Windhauch, als flöge ein Vogel über sie hinweg, doch als sie den Kopf in den Nacken legte, sah sie nur einen weißen verschwommenen Fleck, der sich von dem Pier abhob.
»War das etwa …?«
»Ja, die Schneeeule.«
Eng umschlungen verfolgten sie den langen, tiefen Flug der Eule über den Strand. Shane verschränkte seine Finger mit den Fingern ihrer gesunden Hand. Sie saßen reglos auf der Düne, blickten der Eule nach, bis sie aus der Sicht entschwand.
Die Jugendlichen hatten sie offenbar auch gesehen, denn Josh schrie: »Hey, was zum Teufel war denn das?«
»Eine verdammt große Seemöwe«, meinte Declan.
»Seemöwen fliegen nicht in der Nacht«, erklärte Isabella.
»Das war eine Schneeeule.« Tripp lachte. »Psst, kein Wort zu Mickey.«
»Eine Schneeeule – unmöglich!«, warf Martine ein.
»Hey, sie kommt zurück.« Josh spähte den Strand entlang. Er hatte recht; die Eule flog abermals die Dünen ab. Shane und Mickey saßen reglos da, verborgen im hohen Gras rings um die Düne, unsichtbar für die anderen. Während Mickey eng an Shanes Körper gepresst die Eule beobachtete, fühlte sie sich vor Glück fast wie gelähmt – deshalb konnte sie nicht reagieren, selbst wenn sie es gewollt hätte: Es geschah alles blitzschnell.
Josh klaubte ein langes Stück Treibholz aus dem Feuer. Das eine Ende war noch nicht angebrannt, das andere war verkohlt und glimmte: es gehörte offensichtlich zu den nassen Scheiten, die er auf den Holzstoß geworfen hatte. Er holte aus.
»Was machst du da?«, rief
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