Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition)
zum Essen ginge – Chris würde sie am Strand abholen, wenn sie Shane wieder beim Surfen zuschauen wollte.
Als sie nun Shane auf seinem Brett betrachtete, stellte sie sich vor, wie sich Neve feinmachte. Sie hatte hundertmal gesehen, wie sich ihre Mutter ankleidete, wenn sie mit Mickeys Vater zum Essen ging. Sie stand vor dem Spiegel, um sich zu schminken und einen Hauch Parfum aufzulegen. Eau d’Hadrien von Annick Goutal, ein Mitbringsel ihres Chefs aus Paris. Der Duft gefiel Mickey.
Neve würde vermutlich einen Rock tragen. Das trug sie früher immer bei besonderen Gelegenheiten – Geburtstage, Hochzeitstage. Sie hatten es bis zum dreizehnten Hochzeitstag geschafft; dreizehn, eine Zahl, die Unglück verhieß. Ein schwarzer Rock, dazu eine weiße Seidenbluse, vielleicht die silberne Halskette. Perlenohrringe. Schuhe mit hohen Absätzen …
Mickey schüttelte sich. Sie musste aufhören, darüber nachzudenken, was Neve anzog. Der Grund, warum Mickey jetzt noch nicht nach Hause gehen wollte, war, dass sie es nicht ertrug, ihre Mutter zur Tür hinausgehen zu sehen, zurechtgemacht und bereit, einen besonderen Abend zu genießen, mit einem Mann, der nicht Mickeys Vater war. Auch wenn es sich dabei um Mr. O’Casey handelte.
Sie richtete den Blick in die Ferne – auf Shanes Surfbrett und die Wellen. Wie sie sich aufbäumten, sich in eine Röhre verwandelten, unter Shanes Brett zitterten, zerbarsten. Die weiße Gischt endete nie, ging von einer Welle zur nächsten über.
Während sie auf die salzige Gischt starrte, die sich unter den Kanten des Surfbretts auflöste, sich in Nebel verwandelte, in Wasserdampf, dachte sie an die vielen Dinge, die verschwanden. Heute noch da, morgen weg. Kinder, die auf die Rückkehr der Eltern warteten, obgleich diese nie mehr durch die Tür treten würden. Ihre Eltern hatten lange erbitterte Kämpfe ausgetragen; konnten sie nicht endlich Frieden schließen?
Nach einer langgezogenen Wellenfront paddelte Shane in Richtung Ufer, schob sein Brett durch die Brandung, klemmte es unter den Arm und lief zu Mickey auf den Steg. Je näher er kam, desto wärmer wurde ihr ums Herz, und als er endlich bei ihr war, stürzte sie sich in seine Arme und küsste ihn, ein nasser, salziger Kuss, bei dem ihr von Kopf bis Fuß heiß wurde. Ihre Tasche war gefüllt mit Muschelschalen und Meerglas und ihre Lippen schmeckten nach Shane und nach Ozean.
»Wie war’s?«
»Einfach toll, weil du dabei warst.« Er presste sie an sich, seine Lippen kalt an ihrer Wange.
»Wirklich?«
»Ja. Superdünung, hin und wieder eine vereinzelte Riesenwelle, so wie die Wellen an der Spitze des U-Boots immer beginnen: Sie türmen sich schäumend auf, überschlagen sich, wenn sie über den Kommandoturm hinwegbranden, und bilden lange hohle Röhren.«
Sie nickte, hielt ihn eng umschlungen.
»Ich habe dich auf dem Pier gesehen.« Er drückte sie an sich und küsste sie, dann legte er den Kopf in den Nacken und sah ihr in die Augen. »Und ich habe mir gewünscht, dass dieser Augenblick nie endet.«
»Ich auch.« Mickey dachte an die Briefe, die sie geschrieben hatte. Inzwischen waren es schon siebenunddreißig, sie hatte jede freie Minute dafür verwendet. Sie sah Shane an; er war ein Jahr älter als sie, beinahe alt genug, um in den Krieg zu ziehen. Sie löste sich aus seinen Armen und kletterte wieder auf den Steg, zog ihn hoch, so dass er hinter ihr stand. Sie blickten gemeinsam aufs Meer hinaus und lauschten den Geräuschen ringsum: dem Atem des anderen, den Küstenvogelschwärmen, die über sie hinwegflogen, der Brandung über dem Wrack, der frischen Brise, die das Ende des Winters und den Beginn des Frühlings ankündigte, und den lautlosen Stimmen der Väter und Söhne auf dem Meeresgrund und darüber.
Tim erschien pünktlich um sechs – nicht erst um sieben, wie zuerst vereinbart. Er hatte gesagt, er brauche Tageslicht, um ihr etwas zu zeigen, und sie war einverstanden gewesen. Chris wartete darauf, Mickey vom Strand abzuholen, und so seltsam es ihr auch vorkam, ihre Tochter nicht zu sehen, wenn sie von der Arbeit heimkehrte, war sie heute beinahe erleichtert. Es war ein sonderbares Gefühl, mit einem Mann auszugehen, und sie war froh, Mickeys Reaktion nicht mitzubekommen.
»Sie sehen toll aus.« Tim hielt ihr die Tür seines Trucks auf und sie stieg ein – in einem schwarzen engen Rock, einem schwarzen Kaschmirpullover und hohen schwarzen Stiefeln.
»Sie aber auch.« Er trug Khakihosen, ein
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