Wenn es Nacht wird in Miami
Blocks weiter fragte Mitch unvermittelt: „Hat deine Schwester eigentlich ein Testament hinterlassen?“
Carly stutzte. „Ja. Warum?“
„Ich würde es gern mal sehen.“
„Und warum das?“
„Nun, schließlich geht es um Rhett, und ich bin sein Bruder, wenigstens sein Halbbruder. Und das ist immer noch mehr als Tante.“
Carly war die Sache nicht geheuer. Ihr Anwalt hatte ihr zwar versichert, die von Marlene von Hand geschriebenen Zeilen seien als Testament gültig und unanfechtbar, aber wer konnte sagen, was für Winkelzüge den hoch bezahlten Top-Juristen des mächtigen Kincaid-Clans einfielen. „Marlenes Testament ist notariell beglaubigt und rechtlich einwandfrei“, sagte sie schnell.
„Dann gibt es doch keinen Grund, warum ich nicht einmal einen Blick darauf werfen könnte.“
„Ich werde meinem Anwalt sagen, dass er dir eine Kopie schicken soll.“
„Das Original wäre mir schon lieber.“
Carly war ernstlich beunruhigt. „Warum?“, fragte sie wieder.
„Ich möchte mir selbst ein Bild davon machen, ob das Dokument gültig ist.“
Er war also entschlossen, in die Offensive zu gehen, stellte Carly mit einem Anflug von Panik fest. Äußerlich unbeeindruckt sagte sie nur: „Das ist es. Verlass dich drauf.“
„Schon einen Mieter für dein Haus gefunden?“, fragte Mitch dann und wechselte damit zu einem unverfänglicheren Thema.
„Nein.“
„Macht es dir nichts aus, es leer stehen zu lassen?“
Carlys ursprüngliche Absicht, sich beim Laufen zu entspannen und ihre um Mitch kreisenden Gedanken abzuschütteln, hatte er längst zunichtegemacht. „Meine Nachbarn kümmern sich um das Haus und schauen regelmäßig vorbei.“
„Vertraust du ihnen?“
„Absolut.“
„Du könntest doch eine Alarmanlage installieren lassen und einen Wachdienst beauftragen.“
„Das kann ich mir nicht leisten.“
„Sag das nicht. Ein Wort und ich regele das für dich.“
„Danke, aber wenn ich wieder nach Hause komme, brauche ich das alles nicht.“
Carly beschloss, ihre normale Joggingstrecke an diesem Tag abzukürzen, und bog an der nächsten Kreuzung nach rechts ab, um den direkten Weg zurück zu Kincaid Manor zu nehmen.
Mitch blieb an ihrer Seite. „Wovor läufst du eigentlich weg?“
Dumme Frage, vor dir natürlich, du Blödmann, dachte Carly. „Ich muss heute schon früh anfangen zu arbeiten“, erklärte sie.
Mitch warf ihr einen Blick von der Seite zu, der ihr verriet, dass er ihr kein Wort glaubte. Das alte Misstrauen zwischen ihnen war in vollem Umfang wieder zurückgekehrt. Carly glaubte nicht, dass es Mitch auch nur im Geringsten um Rhett ging, sondern ausschließlich um die Kincaid-Milliarden. Aber sie würde um Rhett bis zum Letzten kämpfen. Und wenn sie dafür ihr Haus und alles andere aufgeben musste.
„Ich habe gerade ein Fax losgeschickt“, kündigte Frank Lewis Mitch am Handy an. „Aber ich fürchte, es wird dir nicht gefallen.“
Mitch legte die Hausschlüssel auf die Kommode in der Halle von Kincaid Manor. „Was sollte mir daran nicht gefallen?“
„Soviel ich bis jetzt weiß, ist Carly Corbin blitzsauber.“
„Ach was, niemand ist vollständig sauber“, widersprach Mitch. „Wie weit bist du zurückgegangen?“
„Bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr. Ich kann natürlich noch ein bisschen tiefer graben.“
„Tu das. Und die andere Sache?“
„Da bin ich noch nicht weiter. Die Polizei tappt tatsächlich komplett im Dunkeln. Aber ich halte die Augen weiter offen.“
„Sehr gut.“
„Mitch, ich glaube, du bist da auf dem Holzweg. Everett war im Geschäft ein harter Hund, aber er war doch kein Mafia-Pate.“
Mitch ging in die Bibliothek, wo das Faxgerät gerade mit der Übertragung begann. „Sicher nicht. Aber diese Marlene hat ihn in die Enge getrieben, und er wird alles unternommen haben, um aus dem Schlamassel wieder herauszukommen. Niemand hat zuvor je gewagt, meinen Vater unter Druck zu setzen.“
„Ich kümmere mich drum. Lies erst mal das Fax. Wir bleiben in Verbindung.“
„Danke, Frank.“ Mitch unterbrach die Verbindung, nahm die Seiten aus dem Faxgerät und überflog den Text. In der Tat schien nichts Besonderes darin zu stehen: Studium an der University of Florida, Gainesville, Berufsausbildung, ein lückenloser beruflicher Lebenslauf, die aufgelöste Verlobung. Trotzdem stimmte damit etwas nicht.
Mitch setzte sich in den Schreibtischsessel und ging das Ganze noch einmal gründlicher durch. Dann hatte er die faule Stelle
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