Wenn keiner dir glaubt: Thriller (German Edition)
häuften sich die Zweier im Zeugnis. Garcia hatte sich mithilfe der Strippenzieher durchs College gemogelt.
Unter dem Stapel lag ein Dossier über Janson. Anya machte es sich auf dem Bett bequem und fing zu lesen an. Janson hatte die Lincoln High School in Chatham, Tennessee, besucht und einen Dreier-Durchschnitt erzielt. Es gab eine rudimentäre Krankenakte, in der Impfungen und gelegentliche Röntgenaufnahmen verzeichnet waren. Von Gehirnerschütterungen kein Wort. Seine Eltern würden sich präziser erinnern, vermutete sie stark.
Ein knapp gehaltener Bericht behandelte einen Vorfall auf der Highschool. Eine junge Frau war angeblich unter der Sportplatztribüne sexuell missbraucht worden. Anzeige war nicht erstattet worden.
In einem Karton lagerten etliche DVD s, die von letzter Woche datiert waren. Sie standen neben dem Schreibtisch, was darauf hindeutete, dass Ethan sie noch nicht durchgesehen hatte. Es waren die Überwachungsvideos der Nacht, in der Pete Janson starb. Anya machte den Fernseher an und legte eine DVD ein. Man sah die Lobby. Es herrschte ein stetes Kommen und Gehen, und sie sah die Rettungssanitäter und Polizisten, die, von einem Hotelangestellten begleitet, zu den Aufzügen liefen.
Sie betrachtete die Menschen, die aus dem Aufzug kamen, sah aber niemanden mit schwarzem Kleid und Kopftuch. Dann entdeckte sie sie – sie saß in der Lobby und tippte auf einem Laptop. Wegen des Aufnahmewinkels und weil sie den Kopf gesenkt hielt, sah Anya nur das Tuch, das ihre Haare verbarg.
Es dauerte eine halbe Stunde, bis die Frau auf dem Sessel den Rechner zuklappte und zur Rezeption ging. Es war nicht möglich, ihr Gesicht zu erkennen. Auch beim zweiten Ansehen wurde es nicht besser. Die Frau blieb anonym. Allerdings händigte sie dem Portier diesmal ein Handy aus.
Anya fragte sich, weshalb jemand, der ein Handy fand, sich erst einmal ausgiebig mit dem Computer beschäftigte, ehe er es abgab.
Weshalb hatte die Frau das Handy nicht einfach umgehend an der Rezeption abgegeben? Anya nahm ihr Handy aus der Tasche und kontrollierte die ausgehenden Anrufe. Da waren nur die, die sie selbst gemacht hatte. Dann sah sie auf die Uhr auf dem Überwachungsband und stellte fest, dass das passiert war, nachdem sie bei der Rezeption nachgefragt hatte, ob ihr Handy abgegeben worden sei. Es war nicht derselbe Portier, mit dem sie gesprochen hatte. Anscheinend hatte der Angestellte, bei dem sie sich erkundigt hatte, ihre Nachfrage nicht weitergegeben, weshalb man Ethan angerufen hatte. Es war also möglich, dass das Handy, das da abgegeben wurde, ihres war. Was hatte diese Frau damit gemacht?
Die Überwachungsbilder brachten sie nicht weiter, aber dem Vorfall auf der Highschool musste nachgegangen werden. Es musste eine Verbindung zwischen dem Tod von Keller und Janson geben. Plötzlich fiel ihr ein, dass Ethan vorgehabt hatte, der Lincoln High einen Besuch abzustatten.
Womöglich passte diese Fahrt jemandem nicht in den Kram, und man wollte ihn aus dem Weg haben. Sie verdrängte diesen Gedanken. Es war immer noch am wahrscheinlichsten, dass Clark Garcia Ethan zusammengeschlagen hatte. Er hatte ihn bedroht und hatte einen hinreichenden Grund für die Attacke.
Was ihr aber keine Ruhe ließ, war die Frage, wie er wissen konnte, wo sie waren.
42
Am nächsten Morgen wachte Anya mit Schmerzen im Nacken und pochendem Schädel auf. Stundenlang hatte sie sich in Ethans Zimmer die Unterlagen und Überwachungsvideos angesehen. Ein Blick aufs Handy: keine Nachricht von Lyle Buffet.
So blieb ihr nichts übrig, als zu duschen und sich anzuziehen. Um halb acht war sie wieder auf der Intensivstation. Lyle lag in einem Lehnstuhl neben Ethans Bett, eine blaue Krankenhausdecke über sich gebreitet.
Der alte Herr schien über Nacht gealtert. Er wachte auf, als sie eintrat, und schien froh, sie zu sehen. Vor dem Einzelzimmer hatte der normale Tagesablauf begonnen, die Bohnermaschinen surrten, und Putzleute waren an Betten und Geräten zugange.
Sofort fiel ihr auf, dass Ethan nicht mehr künstlich beatmet wurde, ein gutes Zeichen.
»Die Schwester meint, er kommt allmählich zu sich. Die Ärzte sagen, er muss noch im Krankenhaus bleiben, weil das Hämatom beobachtet werden muss. Sollte sich das auch nur geringfügig verschlimmern, verliert er die Niere. Wenn er sich brav an die Anweisungen hält, kann man sie vielleicht gerade noch retten.«
»Das ist eine gute Nachricht.« Eine Woge der Erleichterung überkam sie.
Von Ethans
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