Wenn nur dein Lächeln bleibt
kann man deutlich sehen«, freute sich Frau Dr. Glaser. »Hör mal, Anja, was kommt denn jetzt?«
Sie ließ einen Hund bellen. »Wau, wau, wau!«
Anja drehte den Kopf, und ihre Hände verkrampften sich.
»Sie will ihn streicheln«, sagte ich.
»Gut, das ist ja schon ganz fein!« Frau Dr. Glaser nahm immer neue Instrumente zur Hand und beglückte meine Anja dermaßen, dass sie mir fast vom Schoß fiel. Anja freute sich über die Performance, die man ihretwegen aufführte.
»Gut, belassen wir es dabei«, sagte Frau Dr. Glaser, setzte sich an ihren Schreibtisch und füllte das Hörtest-Formular aus, wobei sie einzelne Antworten ankreuzte.
»So, hier bitte! Bringen Sie das zu Professor Mohr.
Tschüs, Anja! Und viel Spaß in der Musiktherapie!«
Wir gaben uns herzlich die Hand, Frau Dr. Glaser und ich. Endlich mal eine nette, unkomplizierte und verständnisvolle Ärztin!
Wieder schob ich Anja über das Klinikgelände, reihte mich in die Schlange der Wartenden ein, bis ich schließlich erneut vor der Koryphäe saß.
Prof. Dr. univers. Mohr. »Geht’s ums Ohr, geh zu Mohr.«
Der liebenswürdige alte Herr studierte das Formular, das ich ihm brav in die Hand gedrückt hatte, und schüttelte bedauernd den Kopf: »Ihre Tochter ist leider taub.«
»Wie bitte?« Ich wäre aufgesprungen, hätte ich nicht mein um sich schlagendes Kind auf dem Schoß gehabt. »Das kann gar nicht sein! Sie hat jedes Geräusch gehört! Frau Dr. Glaser hat ja selbst gesehen, wie Anja sich gefreut hat!«
»Frau Doktor Glaser führt den Test durch, und ich stelle die Diagnose.«
»Anja ist nicht taub!«
»Und wieso steht hier bei keiner einzigen Frage die richtige Antwort? Frau Dr. Glaser hat nur Striche gemacht!«
»Weil Anja nicht sprechen kann!«
»Kinder, die nicht sprechen können, sind in der Regel taub.«
»Aber in unserem Fall liegen die Dinge doch ganz anders! Lesen Sie die Krankenakte erst mal gründlich durch, bevor Sie sich zu so einem Urteil hinreißen lassen!«, schrie ich den Mann unter Tränen an, und Anja stieß auf meinem Schoß gequälte Laute aus. Natürlich spürte sie an Lautstärke und Tonfall meiner Stimme, dass etwas nicht stimmte.
Der Doktor hob nun auch seine Stimme: »Wer von uns beiden ist nun Experte auf dem Gebiet der Otorhinolaryngologie, Sie oder ich?«
»Und wer von uns beiden kennt dieses Kind besser?«, schluchzte ich. »Sie liebt Musik! Diese Therapie würde sie glücklich machen!«
»Und mich würde glücklich machen, wenn diese hysterischen Mütter behinderter Kinder nicht alles besser wüssten«, schnauzte der Professor mich verärgert an. »Sie wollen nur nicht wahrhaben, dass Ihre Tochter keine Sinneswahrnehmungen hat«, sagte der Arzt streng. »Aber Sie müssen sich damit abfinden. Sie spürt nichts, sie hört nichts, sie merkt nichts. Sie nimmt nichts wahr. Sie ist im Grunde bloß eine leere Hülle. Ja, so hart das auch klingen mag: Eine Musiktherapie wäre reine Verschwendung von Staatsgeldern.«
Ich wischte mir die Nase am Mantelärmel ab, da ich noch nicht mal ein Taschentuch hervorkramen konnte.
»Ich bin nicht hysterisch. Ich bin nur maßlos enttäuscht von Ihrer Ignoranz«, sagte ich verzweifelt.
»Ihre Tochter ist taub, und zwar zu hundert Prozent auf beiden Ohren. Ihr Antrag auf Musiktherapie ist hiermit abgelehnt!« Der Professor nahm meinen mehrseitigen Antrag und riss ihn vor meinen Augen demonstrativ in winzige Stücke. »So! Damit Sie das endlich kapieren! Noch entscheide ICH in meiner Klinik, mit welcher Diagnose ich meine Patienten nach Hause schicke! Und Ignoranz lasse ich mir von einer frustrierten Mutter ganz bestimmt nicht vorwerfen!«
Mit diesen Worten wehte der Weißkittel erzürnt zum Sprechzimmer hinaus und knallte die Tür hinter sich zu. Dass Anja dabei kräftig zusammenzuckte, konnte er leider nicht mehr sehen. Sonst hätte er gemerkt, dass sie nicht taub ist.
D ie Erzieherinnen waren höchst verwundert, als sie die Diagnose »taub« hörten. »Wir haben zwar nicht Medizin studiert, aber so wie Anja sich freut, wenn wir mit den Kindern singen oder das Radio aufdrehen, und so wie sie auf Außengeräusche reagiert, scheint ihr Hörvermögen tadellos zu sein«, sagte die Heimleiterin kopfschüttelnd.
»Neulich ist mir ein Tablett mit Tellern hingefallen, und es hat mächtig geklirrt«, sagte eine der Betreuerinnen. »Ihr glaubt ja gar nicht, wie schadenfroh Anja gejauchzt hat!«
Anja bekam ihre Musiktherapie. Auch ohne staatliche Genehmigung. Was absolut gegen
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