Wenn nur noch Asche bleibt
auslöste. Sie schickten ihren Feinden abgetrennte Finger und Köpfe und zwangen ihre eigenen Leute im Fall eines Versagens, Seppuku zu begehen.“
„Ritueller Selbstmord durch Bauchaufschlitzen.“ Elena schüttelte sich. „Wie ekelhaft.“
„Nicht wahr? Jedenfalls errang sich Natali durch Demonstration seiner Fähigkeiten den Respekt des Oberhaupts und kletterte in rasantem Tempo die Karriereleiter innerhalb der Organisation hoch, bis eines Tages der perfekte Zeitpunkt zum Zugriff kam. Unser Einsatzteam stürmte mit Feuereifer das Gebäude, aber da lagen alle zwölf Oberhäupter bereits ausgeknockt auf dem Boden, verschnürt wie Hummer vor dem Kochen. Und Natali? Der saß seelenruhig in einem Sessel und aß gefüllte Litschis.“
„Aha.“ Elena stellte ihre Tasse ab und rieb sich die Hände. „Ich mag urbane Legenden. Was sonst noch? Hat er Chuck Norris in eine Mülltonne gesteckt?“
„Es ist keine Legende. Schau dir seine Hand an. Ihm fehlt der linke kleine Finger.“
„Willst du damit sagen, sie haben ihn …“, Elena schauderte, „… abgeschnitten?“
„Ja, als Zeichen seiner Loyalität. Du hättest ihn sehen sollen. Er zuckte mit keiner Wimper. Fast so, als spürte er gar nichts. Und als man vor seinen Augen einen Mann erschoss, um seine Reaktionen auszuwerten, blieb er vollkommen ungerührt.“ Violets Stimme nahm einen Klang an, der in gleichen Teilen von Schrecken und Faszination sprach. „Er hatte den Blick eines Reptils. Und sein Gesicht … es war kalt wie Eis. Schön und absolut tödlich.“
„Es gibt also Aufnahmen?“ Elena spürte, wie prickelnde Gänsehaut über ihren Körper kroch. Schön und absolut tödlich? Worauf ließ sie sich da ein?
„Ja.“ Violets Blick glitt ins Leere. „Die Organisation nahm alles Wichtige auf Video auf. Die Weihung neuer Mitglieder. Morde, Vergewaltigungen, rituelle Selbstmorde. Die ganzen Sachen eben, mit denen sie sich die Zeit vertrieben.“
Elena nickte und dachte eine Weile nach. „Du weißt aber schon, wie das beim Angeln läuft? Aus einer Sardine wird in Windeseile ein Tigerhai.“
„Glaub mir, an diesen Geschichten ist nichts übertrieben.“
„Ist er Buddhist?“
„Soweit ich weiß, ist er zum buddhistischen Glauben übergetreten, als seine Ausbildung im Kloster begann.“
„Ommmmm“, summte Elena.
„Und er ist Vegetarier, nur falls du ihn mal zum Essen einladen willst. Wobei dir das nur gelingen dürfte, wenn du ihm vorher KO-Tropfen verabreichst. Unser Mönch hasst Menschen. Andererseits – nein, hassen ist das falsche Wort. Sie sind ihm egal. Letzten Monat stürmten er und seine Jungs eine Farm, um eine Betrügerbande hochgehen zu lassen. Es stellte sich als falscher Alarm heraus, aber man fand im Stall der Farm mehrere verwahrloste Pferde und Rinder. Abgemagert bis auf die Knochen. Ich habe die Fotos gesehen. Die Zustände als erbärmlich zu bezeichnen, wäre eine mordsmäßige Verharmlosung. Natali ging schnurstracks zurück ins Farmhaus, krallte sich den Besitzer, zerrte ihn in den Stall und prügelte ihn windelweich. Anschließend steckte er dessen Kopf in die Scheiße, bis er fast erstickt wäre.“
„Sympathischer Junge.“ Elena wusste nicht, was sie von diesen Erzählungen halten sollte. Am besten war es wohl, sich ein eigenes Urteil zu bilden, was dank der unmissverständlichen Drohung des Lieutenants ohnehin eine Notwendigkeit darstellte.
„Ich statte eurem Wunderwesen dann mal einen Besuch ab.“ Sie strich den braunen Hosenanzug glatt, überprüfte ihre Hochsteckfrisur und fühlte sich plötzlich mehr als bereit für eine Konfrontation. Hatte sie zuvor gehofft, Agent Natali zu verpassen, brannte sie nun auf ein Treffen. Schon aus Neugier. Ein telekinetischer Shaolin-Mönch, der seine Ziele absolut kompromisslos durchsetzt. Das war doch mal was.
„Viel Glück.“ Violet lächelte verklärt. „Vielleicht schaffst du es ja, unseren misanthropischen Sonderling zum Schmelzen zu bringen. Aber Vorsicht. Er beißt.“
Elena antwortete mit einem Schulterzucken und begab sich in die oberste Etage des Gebäudes. Mit wachsender Anspannung zählte sie die Büros ab.
Sie klopfte an, ohne dass eine Reaktion erfolgte. Sie klopfte noch einmal, griff nach der Klinke und drückte sie hinunter. Offenbar war der Mönch wieder in sein Kloster zurückgekehrt. Sei es drum, dann würde sie ihre Neugier eben beim nächsten Mal befriedigen. Was sich ihr nach dem Eintreten offenbarte, war nicht nur völlig durchschnittlich –
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