Wenn tausend Sterne fallen: Roman (German Edition)
einmal von ihr.«
»Oje, das muss ja schrecklich für sie gewesen sein!«, murmelte Daisy.
»Er war einer der ganz großen Stars in diesem Zirkus«, fuhr Mavis fort. »Heutzutage wäre er vermutlich eine Berühmtheit, doch damals waren Zirkusleute nicht sehr angesehen.«
»Jetzt weiß ich wenigstens, warum ich so gut im Turnen bin«, bemerkte Daisy. »Als Kind hab ich viele Preise gewonnen – ich war selbst so etwas wie ein kleiner Star. Kein Wunder, bei dem Vater.«
Tim lachte leise. »Sie scheinen ja mächtig stolz darauf zu sein.«
»Bin ich auch«, erwiderte sie freimütig und grinste. »Turnen war das Einzige, was ich wirklich gut konnte, und in einer Familie, in der niemandem auch nur ein Handstand gelang, schien das ein herausragendes Talent zu sein.«
»Siehst du, Gran, du hast dich ganz umsonst gesorgt«, meinte Tim lachend und sah seine Großmutter bedeutungsvoll an. »Dein dunkles, dunkles, ängstlich gehütetes Geheimnis hat Daisy glücklich gemacht.«
»Red keinen Blödsinn, Tim«, fuhr Mavis ihn unwirsch an. »Ich habe das nur für mich behalten, weil Ellen mich darum gebeten hat – nicht, weil ich finde, dass man sich deswegen schämen müsste.«
»Es hätte schlimmer kommen können: Er hätte ja auch ein Rattenfänger sein können.« Daisy lächelte. »Ich wünschte, er wäre zu Ellen zurückgekehrt, das wäre so romantisch gewesen.«
»Ich hatte nie den Eindruck, dass sie sich ihrer Liebe zu ihm geschämt hat. Sie war nur gekränkt, weil er ihr etwas vorgemacht hatte.«
»Ich hatte auch Beziehungen zu Männern, die nichts taugten«, gestand Daisy, »ich kann das gut nachfühlen.«
Beim Abendessen erzählte Mavis Daisy in allen Einzelheiten, was sie über die Pengellys wusste. Sie war eine hervorragende Erzählerin, und Daisy konnte sich ein ausgezeichnetes Bild von den Menschen und den Örtlichkeiten machen.
»Was hielten Sie von Clare?«, fragte sie. Wäre sie noch am Leben, müsste ihre Großmutter heute älter als Mavis sein. »War es Selbstmord oder ein Unfall? Was meinen Sie?«
»Es muss Selbstmord gewesen sein«, antwortete Mavis. »Wenn sie mit dem Kind in den Armen nur einen Spaziergang hätte unternehmen wollen, wäre sie vorsichtiger gewesen und hätte sich nicht so nah an die Kante des Kliffs gewagt. Vermutlich litt sie an einer postnatalen Depression. Damals kannte man so etwas natürlich noch nicht. Man hat es als ›Nervenkrise‹ abgetan. Clare soll ja eine künstlerisch veranlagte, sehr überspannte junge Frau gewesen sein.« Mavis machte eine nachdenkliche Pause. »Ich vermute, sie hat Albert aus der Leidenschaft des Augenblicks heraus geheiratet. Für ein Mädchen, das so behütet aufgewachsen war, muss er ein aufregendes, romantisches Abenteuer gewesen sein. Außerdem soll er als junger Bursche sehr gut ausgesehen haben. Aber zwei Babys kurz nacheinander, das ungewohnte Leben unter primitiven Bedingungen – das alles hat sie wohl nicht verkraftet.«
Daisy dachte einen Moment nach. »Kein Wunder, dass ich immer ein wenig durchgedreht war«, sagte sie mit einem schwachen Lächeln. »Verstockte Männer, verrückte Frauen, Trapezkünstler – was für eine Familie!«
»Ihre Mutter war einer der anständigsten Menschen, die ich je kennen gelernt habe«, entgegnete Mavis scharf. »Sie war überaus intelligent, freundlich, sanftmütig und fleißig. Ihr einziger Fehler war, dass sie immer versucht hat, es anderen recht zu machen, nie sich selbst.«
»Aber nachdem sie das Geld kassiert hat, hat sie sich verändert, nicht wahr? Sie wollte von der Farm oder ihren alten Freunden nichts mehr wissen.«
Mavis sah Tim vorwurfsvoll an. »So hättest du es nicht ausdrücken dürfen«, empörte sie sich. »Du weißt genau, dass es meiner Meinung nach nicht das Geld war, das sie veranlasst hat, den Kontakt abzubrechen. Sie muss einen schweren Nervenzusammenbruch erlitten haben. Das würde jedem sensiblen Menschen nach einer solchen Katastrophe so gehen.«
»Sie haben sicher Recht«, versicherte Daisy hastig. Sie bereute ihre verletzende Bemerkung. »Ich hoffe, sie wird sich eines Tages wieder bei Ihnen melden. Und Josie? Was war sie für ein Mensch?«
Sie zog das alte Foto von den beiden Mädchen aus ihrer Handtasche und reichte es Mavis. »Das hat Ellen meiner Mutter geschickt, als ich ungefähr sechs oder sieben Jahre alt war. Ich möchte zu gern wissen, was es zu bedeuten hat. Warum hat sie kein neueres Foto geschickt? Es muss eine ganz besondere Bedeutung für sie gehabt
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