Wenn tausend Sterne fallen: Roman (German Edition)
haben; ich kann das deutlich fühlen. Deshalb würde ich gern mehr über Josie erfahren.«
Mavis schwieg einen Augenblick. Dann erklärte sie: »Ellen liebte Josie. Sie waren nicht nur Schwestern, sondern auch die besten Freundinnen. Kurz nachdem diese Aufnahme entstanden war, erfuhr Ellen, dass Violet nicht ihre leibliche Mutter war.«
Sie erzählte, wie Ellen davon erfahren und wie herzlos Violet reagiert hatte. Ellen sei klar gewesen, fügte sie hinzu, dass nichts mehr so sein würde, wie es einmal gewesen war. »Ich glaube, dieses Foto war das letzte aus einer Zeit ungetrübten Glücks. Danach gab es keine unbekümmerten Momente mehr für sie. Die meisten von uns besitzen dutzende von Fotos aus glücklichen Zeiten, aber für Ellen war dies das einzige. Deshalb wollte sie, dass Sie es bekommen.«
»Ich verstehe.« Daisy brannten Tränen in den Augen. »Erzählen Sie mir mehr von Josie. Sie muss Ellen viel bedeutet haben, und falls ich ihr je begegnen sollte, wird es mir helfen, wenn ich etwas über sie weiß.«
»Sie müssen vor allem wissen, dass Josie von zu Hause weggelaufen ist und ihrer Familie viel Kummer bereitet hat«, räumte Mavis ein. »Das war kurz nach ihrem fünfzehnten Geburtstag, im Juli. Sie hatte das Wochenende in Falmouth verbracht. Als sie nicht nach Hause kam, informierte Albert vom Pub aus die Polizei. Die Nachricht sprach sich natürlich in Windeseile herum. Er rief auch Ellen in Bristol an, fragte, ob Josie bei ihr wäre. Sie waren zwei Monate zuvor zur Welt gekommen, und Ellen war furchtbar deprimiert.«
»Und Josie hat sich nicht gemeldet?«
»Doch, ein paar Tage später kam anscheinend eine Postkarte aus London. Josie hat noch ein paarmal geschrieben, aber nie eine Adresse angegeben. Sie können sich sicher denken, was sie ihrer Familie damit angetan hat.«
»Meine Eltern wären vor Sorge wahnsinnig geworden.« Daisy schüttelte traurig den Kopf.
»Albert und Violet ging es nicht anders. Die meisten im Dorf rechneten damit, dass sich eine Tragödie ereignen würde. Josie war schließlich Violets Lebensinhalt gewesen. Aber als Ellen mich besuchte, sagte sie, anscheinend habe der Kummer Albert und Violet einander näher gebracht. Das tröstete sie ein wenig.«
»Dann war Ellen also wieder hier gewesen?«
»Nur für eine Woche, doch das war wirklich mutig von ihr gewesen. Sie hatte so viel durchgemacht, und das Letzte, was sie brauchte, waren Vorwürfe ihrer Stiefmutter Violet, die sie dafür verantwortlich machte, dass Josie weggelaufen war. Aber Ellen hielt es für ihre Pflicht, ihre Eltern zu trösten. So war sie eben, Daisy. Sie hat immer zuerst an andere gedacht.«
Mavis tupfte sich die Tränen aus den Augen.
»Ich weiß nicht, wie sie es fertig brachte, sich nichts von ihrem eigenen Drama anmerken zu lassen. Sooft sie mich besuchte, hat sie herzzerreißend geweint. Sie war halb krank vor Kummer wegen Ihnen und Josie. Sie könne ja verstehen, warum Josie nicht wolle, dass ihre Eltern Kenntnis über ihren Aufenthaltsort erlangten, aber es hatte sie tief getroffen, dass Josie sie nicht ins Vertrauen gezogen und sich nicht einmal nach dem Baby erkundigt hatte.«
Daisy dachte an ihr Verhältnis zu Lucy. »Schwestern können grausam und gedankenlos sein.«
»Schon, doch die beiden waren als Kinder ein Herz und eine Seele. Ellen hatte Josie von ihrer Schwangerschaft erzählt; Josie war außer mir der einzige Mensch, der den wahren Grund für Ellens Abreise nach Bristol kannte. Sie können sich also vorstellen, wie gekränkt sie war, als Josie ihrerseits sich ihr nicht anvertraut und nicht einmal daran gedacht hatte, dass ihre Schwester sich auch in einer furchtbaren Lage befand.«
»Und wann fanden sie Josies Adresse heraus?«
»Erst über ein Jahr später, wenn ich mich richtig entsinne. Aber in dem Jahr, in dem sie durchgebrannt war, erschien in der Weihnachtszeit in einer Boulevardzeitung ein Artikel über eine junge Ausreißerin, die in Paddington Station fotografiert worden war. Die Ausreißerin war Josie.«
Mavis stand auf, ging zum Schreibtisch, zog eine Schublade auf und nahm einen Ordner aus Pappe heraus. »Lesen Sie selbst. Dann werden Sie verstehen, wie uns allen zu Mute war.«
Daisy klappte den Ordner auf. Die Schlagzeile Wer kennt dieses Mädchen?, sprang ihr ins Auge. Darunter war das erschütternde Foto eines Mädchens zu sehen, dem die Tränen übers Gesicht kullerten. Es sah kaum älter als zwölf aus und presste ängstlich seinen Koffer an sich.
»Das
Weitere Kostenlose Bücher