Wenn tausend Sterne fallen: Roman (German Edition)
gleichgültig, wie das Wetter oder welche Jahreszeit es war. Der Wald rechts und links vom Haus präsentierte sich in fast allen Grüntönen, Wiesenblumen schmückten mit ihrer farbenfrohen Pracht die Weiden. Es war aufregend zu beobachten, wie das Getreide wuchs, und Ellen freute sich über den Regen, der das Wachstum beschleunigte. Aber heute kam ihr alles trostlos vor. Die Kühe, die Schafe und der elende Regen hatten die Weide in einen braunen Acker verwandelt; dort, wo die Kartoffeln angebaut worden waren und der Traktor die Erde aufgewühlt hatte, sah es wie nach einer Schlammschlacht aus. Die Felsen der v-förmigen Bucht verschmolzen mit dem Meer und dem Himmel zu einer düsteren dunkelgrauen Masse.
Ellen wandte sich ab und ließ den Blick durchs Zimmer schweifen. Doch das vermochte sie genauso wenig aufzuheitern, denn es sah so verlassen aus, wie sie sich fühlte. Das Fenster befand sich weit unten und war klein, und wenn nicht gerade die Sonne schien, war der Raum in Halbdunkel getaucht. Zwei Betten, auf jedem eine verschossene hellblaue Tagesdecke, standen darin und eine ramponierte alte Kommode. In die Wand waren ein paar Haken eingeschlagen, an denen Ellen ihre Kleider aufhängte. Die Farbe blätterte vom Holzfußboden ab, die weiß getünchten Wände waren schmuddelig, und die Poster von den Beatles und von Elvis Presley, die Josie an die Wand gepinnt hatte, hingen krumm und schief da.
Ellen war nie aufgefallen, wie armselig und schäbig das Zimmer war, aber mit Josie hatte sie sich auch niemals einsam gefühlt und deshalb nicht darauf geachtet. Ihr graute plötzlich bei dem Gedanken, zwei weitere Jahre allein mit dem Vater hier leben zu müssen. Wenn sie wenigstens einen Plattenspieler hätte oder wenn es unten einen Fernseher gäbe, aber nicht einmal das Radio in der Küche funktionierte einwandfrei. In ihrem tiefsten Innern wusste sie, ihr Dad wäre gegen die Beziehung zu Pierre, ihm würden weder sein Name noch sein Beruf oder sein Alter gefallen. Was in aller Welt sollte sie bloß machen?
Am anderen Morgen hatte es aufgehört zu regnen. Voller Optimismus machte sich Ellen auf den Weg zum Strandkiosk. Obwohl die Sonne schien, war es kühler geworden, und der Strand war fast menschenleer. Ellen nutzte das schwache Geschäft, um die Regale zu putzen, aber in Gedanken war sie unentwegt bei Pierre.
Sie durchlebte noch einmal jede Minute, die sie am Samstag miteinander verbracht hatten, und dachte an seine Worte, dass er noch nie für eine Frau empfunden habe, was er für sie empfand. Irgendwie würden sie es schaffen, sie glaubte ganz fest daran. Auch wenn sie ihn vorläufig geheim halten müsste und ihn nur heimlich sehen könnte, wenn er irgendwo in der Nähe auftrat. Damit würde sie leben können.
Pierre hatte erzählt, er verbringe den Winter oft in London. Vielleicht könnte sie sich dort einen Job suchen. Sie kannte Mädchen aus ihrer Schule, die in einem Londoner Mädchenwohnheim untergekommen waren. Ihre Eltern würden ihr bestimmt die Adresse nennen, wenn sie sie darum bat. Und ihr Vater würde wahrscheinlich nichts dagegen haben, wenn sie eine sichere Unterkunft hatte.
Um halb fünf kam der Kioskbetreiber, um die Abrechnung zu machen und den Laden zu schließen. Pierre hatte sich nicht blicken lassen. Ellen wollte sich gerade auf den Weg zum Zirkus machen, als ihr Vater in seinem alten Laster vorfuhr.
Er stieg aus und kam auf sie zu. »Ich hab Saatgut bestellen müssen, da dacht ich mir, ich richt es so ein, dass ich dich mit nach Hause nehmen kann. Wie wärs vorher mit einem Eis?«
Ellen wusste, das war seine Vorstellung von etwas besonders Gutem. Um seine Gefühle nicht zu verletzen, strahlte sie erfreut. Er kaufte zwei Eistüten, und sie setzten sich zum Essen auf die sonnenbeschienene Mauer.
Jetzt waren mehr Leute am Strand als den ganzen Tag über, darunter viele Paare mit kleinen Kindern. Einige veranstalteten ein Picknick im Sand.
»Hier hab ich deine Mutter kennen gelernt«, meinte Albert unvermittelt. »Damals war Krieg, und deshalb war der Strand mit Stacheldraht eingezäunt, aber sie hatte sich einen Hocker hingestellt und saß da und malte. Ich hab ihr zugeschaut, und so sind wir ins Gespräch gekommen.«
Was für eine Ironie, dass er ihr ausgerechnet hier und heute all das erzählen wollte, wofür sie sich seit langem so brennend interessierte! Anstatt sich darüber zu freuen, hatte sie Angst, Pierre könnte kommen und sie zusammen sehen. Es war ihr noch nie peinlich
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