Wenn tausend Sterne fallen: Roman (German Edition)
einen marineblauen Wollstoff, den sie nicht brauchte und der ein hübsches Winterkleid abgeben würde. Ob Ellen am Montagabend nicht vorbeikommen wolle, dann könnten sie ihn zusammen zuschneiden. Ellen hatte begeistert zugesagt und war so guter Dinge wie lange nicht mehr. Die Lammschulter, die im Ofen langsam garte, duftete herrlich, und jetzt kam auch noch Besuch. Vielleicht eine weitere nette Überraschung an diesem Sonntag? Albert, der das Auto ebenfalls gehört hatte, trat in den Garten heraus. Als der Wagen vor dem Haus hielt, schnappten beide hörbar nach Luft. Es war ein Taxi. Auf dem Beifahrersitz saß Violet, im Fond Josie.
»Das gibts doch nicht!«, rief Albert. Violet hatte seit dem Tag, an dem sie Josie zu sich geholt hatte, nichts mehr von sich hören lassen.
Ellen lief zum Auto und riss die Tür auf. »Josie!«, jubelte sie. »Ich bin ja so froh, dass du wieder da bist! Du glaubst gar nicht, wie sehr du mir gefehlt hast!«
Das Lächeln erstarrte auf ihren Lippen. Etwas stimmte ganz und gar nicht. Anstatt ihre fröhliche Begrüßung zu erwidern, drückte sich Josie aus dem Wagen wie ein geprügelter Hund, und Violet machte ein sauertöpfisches Gesicht. Der Fahrer, dem nichts Gutes schwante, hatte es eilig. Er lud das Gepäck aus, stieg wieder ein, wendete und brauste davon.
»Wie gehts deiner Mutter?«, fragte Albert mit frostiger Höflichkeit.
»Sie ist vor zehn Tagen gestorben«, antwortete Violet knapp. »Deshalb sind wir zurückgekommen.«
»Das tut mir Leid«, sagte Albert. Vielleicht dachte er, Violets grimmige Miene rühre von ihrer Trauer her. »Du hättest mir Bescheid geben sollen.«
Ellen musterte nacheinander ihren Vater, ihre Stiefmutter, ihre Schwester. Violets Schroffheit war nichts Neues. Doch was war nur mit Josie los? Sie sah reizend aus in dem hellblauen Kleid und den weißen Sandalen, aber sie trug eine mürrische Miene zur Schau, ihre Augen blickten kalt, ihr Mund war zornig zusammengekniffen. Und ihr Vater machte ein Gesicht, als verstünde er überhaupt nichts mehr.
»Wir wollten gerade essen. Ich stell noch ein bisschen Gemüse auf, damit es für alle reicht«, entschied Ellen, in der Hoffnung, die Atmosphäre zu entspannen. »Aber erst helf ich Josie beim Auspacken.«
Sie nahm die beiden Taschen und ging, gefolgt von Josie, ins Haus. Ihre Eltern blieben draußen. »Du hättest mir keine größere Freude machen können, weißt du das?«, versicherte Ellen, als sie die Treppe hinaufstiegen. »Was hast du eigentlich? Freust du dich denn nicht, wieder hier zu sein?«
»Nein.« Josie warf sich auf ihr Bett. »Mum ist so böse. Du kannst dir nicht vorstellen, wie abscheulich sie zu mir und allen andern war. Ich hasse sie. Und ich hasse diese Bruchbude! Sieh dich doch bloß mal um, Ellen! Haben wir nicht was Besseres verdient?«
Ellen starrte sie bestürzt an. Josie hatte sich noch nie über ihr Zimmer beklagt. »Und wenn wir es streichen, was meinst du?«, schlug sie vor und fügte nach einer Pause hinzu: »Du hast dich verändert. Was ist passiert, Josie?«
»Das kann ich dir jetzt nicht sagen, sonst rastet sie aus, wenn sie es mitkriegt.« Sie warf einen ängstlichen Blick über die Schulter zur Tür. »Setz du das Gemüse auf, ich pack allein aus. Ich will nicht, dass was an meine neuen Sachen kommt.«
Ellen zögerte. Dann setzte sie sich neben ihre Schwester und ergriff ihre Hand. »Was auch immer zwischen dir und Mum passiert ist – es hat nichts mit uns zu tun, hörst du? Ich hab dich schrecklich lieb, Josie, und du hast mir wahnsinnig gefehlt. Sei nicht so eklig zu mir.«
Josies Unterlippe zitterte, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich hab dich auch vermisst. Ich werd dir später alles erzählen. Nimm es mir nicht übel, aber ich bin im Moment einfach so stocksauer auf Mum.«
Ellen stellte einen zusätzlichen Topf Gemüse auf, bereitete noch mehr Soße zu und legte zwei Gedecke mehr auf. Ihre Eltern saßen draußen, mit dem Rücken zum Küchenfenster und zu weit entfernt, als dass sie hätte verstehen können, worüber sie sprachen. Aber an ihrer steifen Haltung und ihrer Gestik konnte sie erkennen, dass es kein glückliches Wiedersehen war.
Sie vermutete, Violet sei zurückgekommen, weil am nächsten Tag das neue Schuljahr begann. Ihre Stiefmutter hatte sich rein äußerlich sehr zu ihrem Vorteil verändert. Sie hatte sich die Haare schneiden und eine Dauerwelle legen lassen, und ihr marineblaues und weißes Kleid war neu. Außerdem schien sie
Weitere Kostenlose Bücher