Wenn wir uns wiedersehen: Thriller (German Edition)
ihrem Schicksal entrinnen. Doch statt dessen ist sie ihm genau in die Arme gelaufen.«
»Glauben Sie, daß Annamarie ihren Tod vorausahnte, Molly?«
»Ja.«
»Und wie kommen Sie darauf?«
»Es war in meinem Traum, Herr Doktor. Sie kennen doch das Märchen von dem Mann, dem geweissagt wird, er werde noch in dieser Nacht in Damaskus dem Tod begegnen. Deshalb reist er sofort nach Samara, um sich zu verstecken. Doch dort trifft er auf der Straße einen Fremden, der sagt: ›Ich bin der Tod, ich dachte, wir wären in Damaskus verabredet gewesen.‹« Sie griff nach Dr. Daniels Hand. »Es kam mir so wirklich vor.«
»Meinen Sie, daß Annamarie keine Möglichkeit hatte, sich zu retten?«
»Überhaupt keine. Für mich gibt es auch keinen Ausweg mehr.«
»Erklären Sie mir das, Molly.«
»Ich weiß es nicht genau«, flüsterte sie. »Als ich heute in der Zelle saß und die Tür verschlossen wurde, hörte ich, wie jemand eine andere Tür immer wieder auf- und zumachte. Ist das nicht seltsam?«
»War es eine Gefängnistür?«
»Nein. Aber ich habe keine Ahnung, was für eine Tür sonst. Das Geräusch erinnerte mich an die Nacht, in der Gary gestorben ist.« Sie seufzte, schob die Decke weg und setzte sich auf. »Oh, Gott, warum kann ich mich nicht erinnern? Dann hätte ich vielleicht noch eine Chance.«
»Molly, daß Ihnen bestimmte Ereignisse und Geräusche wieder ins Gedächtnis kommen, ist ein gutes Zeichen.«
»Wirklich?« fragte sie zweifelnd.
Dr. Daniels musterte Molly mit prüfendem Blick. Er merkte ihr den Druck an, unter dem sie stand. Sie wirkte apathisch, niedergeschlagen, in sich zurückgezogen und überzeugt, daß ihr Schicksal besiegelt war. Offenbar war sie völlig erschöpft.
»Molly, ich würde Sie in nächster Zeit gerne täglich sehen. Einverstanden?«
Er hatte mit Widerspruch gerechnet, aber sie nickte nur gleichgültig.
»Ich verabschiede mich noch von Philip«, sagte er.
»Er sollte auch nach Hause gehen«, entgegnete Molly. »Ich bin Ihnen beiden so dankbar. In den letzten Tagen kümmern sich nicht mehr viele Menschen um mich. Meine Eltern zum Beispiel lassen mich ziemlich im Stich.«
Als es an der Tür läutete, bemerkte Dr. Daniels die Todesangst in Mollys Augen. Bitte nicht die Polizei, dachte er erschrocken.
»Ich mache auf«, rief Philip.
Dr. Daniels sah, wie Molly erleichtert aufatmete, als das Klappern von Absätzen und eine Frauenstimme zu hören waren. Jenna Whitehall kam, gefolgt von ihrem Mann und Philip, ins Wohnzimmer.
Erfreut beobachtete Dr. Daniels, wie Jenna Molly kurz umarmte und sagte: »Ihr Butler-Mietservice ist da, gnädige Frau. Anstelle Ihrer Haushälterin wird der allmächtige Calvin Whitehall persönlich mit freundlicher Unterstützung von Rechtsanwalt Philip Matthews das Servieren und Putzen übernehmen.«
»Dann gehe ich jetzt«, verkündete Dr. Daniels mit einem Lächeln. Da Mollys Freunde nun gekommen waren, um ihr beizustehen, konnte er endlich nach Hause fahren. Allerdings war ihm Calvin Whitehall, den er flüchtig kannte, von Herzen unsympathisch. Er hielt ihn für einen rücksichtslosen Menschen, der über Leichen ging, um seine Ziele durchzusetzen. Sicher hatte er nicht die geringsten Skrupel, andere Menschen zu benutzen und sie dann fallenzulassen wie heiße Kartoffeln.
Deshalb war er nicht eben freudig überrascht, als Whitehall ihn zur Tür begleitete.
»Herr Doktor«, sagte Whitehall leise, als befürchtete er, belauscht zu werden. »Ich bin so froh, daß Sie sich um Molly kümmern. Sie bedeutet uns sehr viel. Glauben Sie, es besteht die Möglichkeit, sie für unzurechnungsfähig erklären zu lassen, damit sie nicht vor Gericht muß? Oder könnte man vielleicht einen Freispruch wegen geistiger Verwirrung erreichen?«
»Ich schließe aus Ihren Fragen, daß Sie Molly für schuldig halten«, entgegnete Dr. Daniels kühl.
Der indirekt formulierte Tadel schien Whitehall zu erstaunen.
»Eigentlich wollte ich damit sagen, wie sehr meine Frau und ich Molly schätzen«, erwiderte er gekränkt. »Eine lange Haftstrafe käme für sie einem Todesurteil gleich.«
Gott sei denen gnädig, die es mit dir zu tun bekommen, dachte Daniels, dem Whitehalls entrüstet gerötete Wangen und das eiskalte Funkeln in seinen Augen nicht entgangen waren. »Ich freue mich über Ihre Besorgtheit, Mr. Whitehall. Ich werde Molly täglich besuchen. Uns bleibt nichts
anderes übrig, als jeden Tag so zu nehmen, wie er kommt.« Er nickte und wandte sich zur Tür.
Jenna
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