Wer bin ich ohne dich
Frage, warum Frauen häufiger als Männer depressiv erkranken. | 84 |
Stroh zu Gold spinnen
Der Stress der Frauen
Bei der Frage, was für die allgemeine Zunahme der Depressionserkrankungen – und zwar für beide Geschlechter – verantwortlich ist, lenken Experten zunehmend ihr Augenmerk auf Ursachen, die außerhalb des Individuums liegen. Danach sind es vor allem gesellschaftliche Veränderungen, die das Leben anstrengender und schwieriger machen. Die meisten Menschen stehen heute unter enormem Zeitdruck, sind gezwungen, mehrere Dinge gleichzeitig zu erledigen, verspüren auch in der Freizeit Stress und haben zunehmend das Gefühl, ihr Leben nicht mehr unter Kontrolle zu haben.
Als Gewährsmann für die These von der depressionsfördernden Gesellschaft gilt der französische Soziologe Alain Ehrenberg, der in seinem Buch Das erschöpfte Selbst die modernen Lebensbedingungen mit ihren vielfältigen Herausforderungen als große Gefahr für die seelische Gesundheit identifiziert hat. Er hält die Menschen für überfordert, sie kapitulieren seelisch vor den Anforderungen der modernen Gesellschaft. »Welchen Bereich man sich auch ansieht (Unternehmen, Schule, Familie), die Welt hat neue Regeln«, schreibt Ehrenberg. »Es geht nicht mehr um Gehorsam, Disziplin und Konformität mit der Moral, sondern um Flexibilität, Veränderung, schnelle Reaktion und dergleichen. Selbstbeherrschung, psychische und affektive Flexibilität, Handlungsfähigkeit: Jeder muss sich beständig an eine Welt anpassen, die eben ihre Beständigkeit verliert, an eine instabile, provisori | 85 | sche Welt mit hin und her verlaufenden Strömungen und Bahnen. Die Klarheit des sozialen und politischen Spiels hat sich verloren. Die institutionellen Transformationen vermitteln den Eindruck, dass jeder, auch der Einfachste und Zerbrechlichste, die Aufgabe, alles zu wählen und alles zu entscheiden, auf sich nehmen muss.«
Eigenverantwortlichkeit ist das Gebot unserer Zeit. Doch gleichzeitig stößt eigenverantwortliches Handeln permanent an Grenzen. Wie sollen Beruf und Familie gleichermaßen zu ihrem Recht kommen, wenn keine ausreichenden Betreuungsplätze für Kinder, keine Ganztagsschulen, keine passenden Teilzeitstellen angeboten werden? Wie soll das persönliche Glück gelingen, wenn der Einzelne von der Vielzahl an Wahlmöglichkeiten überfordert ist und gar nicht mehr weiß, was ihn persönlich glücklich machen könnte, was der Sinn seines Lebens ist? Diese Überforderung, so Ehrenberg, erschöpft das Selbst und ist für die Zunahme der Depressionserkrankungen verantwortlich. Wer glaubt: »Ich schaffe es nicht, ich werde meinen eigenen Ansprüchen und den Ansprüchen anderer (tatsächlichen oder vermeintlichen) nicht mehr gerecht«, der läuft Gefahr, depressiv zu werden. Der französische Soziologe zeichnet ein düsteres Zukunftsszenario: »Wir werden mehr und mehr mit Psychopharmaka leben, die die Stimmung verbessern, die Selbstbeherrschung erhöhen und vielleicht auch die Schrecken der Existenz abmildern.«
Ähnlich argumentiert auch die Psychoanalytikerin Marianne Leuzinger-Bohleber. Auch sie sieht die Gründe für die Zunahme der Depressionskranken vor allem in gesellschaftlichen Bedingungen. »Die Depression ist eine Krankheit des Sinns und der Lebensfreude. Beides – Sinn und Lebensfreude – ist in der heutigen Zeit schwerer denn je zu finden. Man braucht sich nur die politische Lage in Deutschland anzuschauen: Die Arbeitslosig | 86 | keit ist hoch, der Sozialstaat bricht zusammen, alte Rezepte versagen, Bindungen zerbrechen. Das alles sind Faktoren, die Depressionen auslösen können. Wer depressiv wird, reagiert sensibel auf die moderne Entwurzelung.«
Permanente Überforderung, ein Mangel an Sinn und Lebensfreude – diese gesellschaftliche Situation ist für Männer und Frauen gleichermaßen belastend und kann folglich nicht die deutlich höhere Erkrankungsrate der Frauen erklären. Dennoch ist es wichtig, bei der Ursachenforschung den Stress als eine wichtige Erklärung heranzuziehen. Denn es scheint, dass zu den für alle Geschlechter gleichermaßen anstrengenden und erschöpfenden gesellschaftlichen Bedingungen für Frauen noch ganz besondere Stressfaktoren hinzukommen.
Elena arbeitet 4 Stunden täglich in einer Autobahnraststätte an der Kasse. Dieser Arbeitsplatz ist 50 Kilometer von ihrer Wohnung entfernt, sie ist also täglich 100 Kilometer unterwegs, für die sie, je nach Verkehrsaufkommen, zwischen 50 Minuten und
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