Wer Boeses saet
vor.
»So, jetzt geht’s. Ich bin draußen.«
»Hast du zu Mittag gegessen?«, fragte Julia.
»Wenn man das so nennen kann … Und? Gibt es Neuigkeiten?«
Julia erzählte ihm ausführlich von ihren Entdeckungen, von den Videos auf YouTube, dem vierten Mord und der gewaltverherrlichenden Website »clockworkorange.com«.
Der Profiler ging auf dem Trottoir auf und ab. Das Handy am Ohr, lauschte er den Worten der jungen Frau, und erneut fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.
Bei dem Ganzen ging es nur um eine einzige Sache.
Um das Bild.
Zunächst waren da die Morde. Sie lehnten sich an fiktionale Werke an, die nur so strotzten vor Spezialeffekten. Diese Szenen wurden dann gedreht, digitalisiert und vorgeführt. Aber der Name der Website, auf der das infernalische Team sich kennengelernt hatte, bekam jetzt eine neue Bedeutung. Es handelte sich um den Namen eines Films …
Dann die Mörderin. Natascha war eine Nachahmerin. Sie kopierte die anderen, weil sie sich nicht in der Lage sah, etwas eigenes Schöpferisches zustande zu bringen. Sie machte sich selbst schlecht und hatte wahrscheinlich ein total negatives Selbstbild. Weil sie sehr darunter litt, hatte sie das Bedürfnis, sich aufzuwerten, Anerkennung zu bekommen. Dass sie sich nicht zu ihren Verbrechen bekannte, lag daran, dass sie bereits ihr Publikum gefunden hatte, denn schließlich hatte sie die Filme ja im Netz veröffentlicht.
Was Maxime, Rémi und den dritten Treiber anging, so hatten sie eine ganz andere Bedeutung. Für sie waren das alles nur Projektionen. Sie waren von Bildern fasziniert. Die Wirklichkeit war ihnen fremd, und ihre Taten waren bedeutungslos. Jedenfalls in der Cyberwelt, in der sie lebten. Das Internet passte gut in dieses Schema. Hier war die Gewalt vielleicht »realer« als in den Filmen, aber sie blieb fern, immateriell. Sie wurde banal, und am Ende war sie nur noch eine Abstraktion.
Julia sprach immer noch.
»He! Hörst du mir überhaupt zu?«
»Entschuldige. Ich habe nachgedacht.«
»Super …«
»Kannst du das Video vom See nach Nanterre weiterleiten?«
»Weshalb? Willst du nicht, dass ich mich darum kümmere?«
»Sei nicht sauer. Wir sind hier besser ausgerüstet, das ist der einzige Grund.«
Julia ging widerstrebend darauf ein.
»Wem soll ich es schicken?«
François zögerte, dann gab er ihr Hallaouis Adresse durch.
»Du sagst ihm bitte, dass es von mir kommt. Besteh darauf, dass er sich beeilt.«
»Und Théron? Ich nehme an, den willst du auch ohne mich befragen?«
Marchand spürte ihre Enttäuschung. Sie hatte sich mächtig ins Zeug gelegt, und jetzt verbannte er sie auf die Ersatzbank.
»Du hast das perfekt gemacht. Aber wir haben nicht mehr genug Zeit.«
»Genau …«
»Du weißt, dass ich recht habe. Diese Fährte ist die heißeste von allen. Ich muss ihr nachgehen.«
Sie grummelte noch vor sich hin, bevor sie fragte:
»Und was mache ich unterdessen?«
»Recherchiere den Audi von Cazenove. Sobald du das amtliche Kennzeichen weißt, gibst du die Informationen an Kellermann weiter.«
»Und danach?«
»Fährst du zurück nach Avignon.«
»Soll das ein Witz sein?«
»Du musst dich ein bisschen ausruhen. Der Rest der Ermittlung ist jedenfalls an einem toten Punkt angelangt.«
»Du spinnst ja!«
Sie hatte ihm ohne Vorankündigung ihre Wut entgegengeschleudert. François war sich der wahren Gründe für diesen Gefühlsausbruch bewusst. Er fühlte sich schlecht. Sie hatte dafür bezahlen müssen, und das nahm sie ihm übel.
»Du hast recht …«, gab er zu. »Ich bin heute Morgen nicht sehr nett zu dir gewesen. Entschuldige bitte.«
»Scher dich zum Teufel.«
»Ich habe dir gerade gesagt, dass es mir leidtut.«
»Nein. Viel zu einfach.«
Sie schwiegen einander an. Marchand wagte es nicht, das Schweigen zu brechen. Jedes Wort konnte dazu führen, dass ihm Beleidigungen um die Ohren flogen. Schließlich sagte Julia, mit einer gewissen Traurigkeit in der Stimme:
»Hör zu, François … Ich will so nicht leben. Mal fühlt es sich sehr warm an und dann wieder total kalt. Dazu fehlt mir die Kraft.«
Der Profiler ließ ein paar Sekunden verstreichen. Die Zukunft ihrer Beziehung stand auf dem Spiel.
»Okay«, sagte er. »Du hast dir mit mir nicht den einfachsten Typen ausgesucht. An deiner Stelle würde ich schreiend davonlaufen. Ich will nur, dass du eines weißt: Du bist das Beste, was mir seit langer Zeit widerfahren ist. Das Beste, und ich will nicht, dass das so endet.«
Ein Seufzer am anderen
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