Wer Boeses saet
Bahnhofsgebäude verlassen, und schon sehnte er sich nach ihrer Berührung. Diese Nacht an ihrer Seite war wie eine Erleuchtung gewesen. Eine unerwartete Alchemie, deren Duft noch in seinem Hemd hing. Julia war für ihn wie ein Hafen des Friedens, eine vertraute Erde, auf der es ihm endlich möglich war, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen.
Die junge Frau war mit dem ersten Zug nach Avignon zurückgekehrt. Trotz ihrer jungen Beziehung durften sie nicht vergessen, wo die Prioritäten lagen.
Sie waren Polizeibeamte. Die Ermittlung ging weiter.
Bevor sie sich trennten, hatten sie die Aufgaben verteilt. Julia würde der Metal-Rock-Fährte nachgehen. Sie kannte jemanden, der sich umhören und ihnen Informationen über Iron Beast verschaffen konnte, die Gruppe, auf die Pierre abgefahren war. Außerdem musste sie auch ihrem Vorgesetzten einen Rechenschaftsbericht liefern. Es stand außer Frage, Devaux in die Ereignisse ihrer Ermittlungen einzuweihen. Es ging nur darum, Informationen aus ihm herauszulocken, falls der Cowboy wundersamerweise einen Schritt weitergekommen sein sollte.
François würde den Mordfall in Bagnolet unter die Lupe nehmen. Ein gerade mal sechzehn Jahre altes Mädchen. Zu Hause ermordet. Innerhalb von drei Tagen waren drei Jugendliche ermordet worden. In allen Fällen mit überaus barbarischer Grausamkeit. Bildete dieses Verbrechen zusammen mit den beiden anderen eine Serie? Würde es die Theorie des Profilers im Hinblick auf das Ritual, das der Mörder verfolgte, bestätigen? Ein heidnisches Ritual, das etwas mit Natur, Wiederauferstehung, Verwandlung zu tun hatte.
Er sah auf die Uhr im Armaturenbrett.
Viertel nach zehn.
Er war gerade an Lyon vorbeigefahren, der Verkehr lief flüssig. Wenn es in diesem Tempo weiterging, würde er am frühen Nachmittag in Nanterre sein.
Vier Stunden später fuhr François auf den Parkplatz der Zentrale der Justizpolizei. Fast jeder freie Platz war von Streifenwagen, zivilen Polizeiwagen und Mannschaftswagen besetzt. François parkte sein Auto auf dem erstbesten freien Platz, übergab den Schlüssel einem Wächter und rannte zum Aufzug.
Siebter Stock. Rückkehr ins Nest und dann eintauchen in die Menge. Im Großraumbüro der Zentrale der Kriminalpolizei wimmelte es nur so von hemdsärmeligen Beamten. Die Drucker spuckten kilometerweise Papier aus, während die Computer heißliefen. Alles arbeitete auf Hochtouren.
François trat auf den Gang, der zum Bereich der höheren Dienstgrade führte. Zum Allerheiligsten. Dort war es viel ruhiger, zumindest schien es so. Als er in die Nähe von Hénons Büro kam, verlangsamte er seinen Schritt. Er hatte ein bekanntes Gesicht entdeckt, das eines Gespenstes in Lederjacke, unmittelbar einem Albtraum aus seiner Vergangenheit entstiegen.
Jouve war ein völlig verdorbener Mensch, verfaulter als ein in der Sonne vergessener Apfel, und ebenso runzlig und karamellbraun. Er war immer auf seinen Vorteil bedacht, erpresste Schutzgelder von sämtlichen Dealern in der Vorortgemeinde Bobigny und schickte liberianische Prostituierte in die Containeranlagen der Baustellen, damit sie für ihn anschaffen gingen. Ohne seinen Mentor, Hauptkommissar Guillaume Forestier, wäre er schon vor geraumer Zeit unschädlich gemacht worden.
Aber der Mann, der die Kripo von Seine-Saint-Denis leitete, mochte ihn. Er bot ihm seinen Schutz im Austausch für die Erledigung von ein paar außergewöhnlichen Diensten. Und wahrscheinlich eines Prozents seiner »Geschäftseinnahmen«.
Der Dreckskerl warf ihm ein honigsüßes Lächeln zu. Marchand ignorierte ihn, denn er zog es vor, sich auf das zu konzentrieren, was jetzt folgen würde. Wenn Jouve vor Hénons Büro Wache schob, hieß das, dass sein Chef da war.
»Ah, François! Gerade noch rechtzeitig …«
»Hallo, Roger.«
»Wir haben schon ohne dich angefangen.«
Forestier, der vor dem Polizeidirektor saß, stand nicht einmal auf. Groß, knochig, grau meliertes Haar. Trotz seiner Magerkeit wirkte er imposant. Er zählte zu den wenigen Polizeibeamten, die noch Krawatte trugen, ein perlgraues Accessoire, das ihn wie ein Bankier aussehen ließ.
»Marchand … Lang, lang ist’s her.«
Dem folgte ein wortloser männlicher Händedruck. Die beiden Männer hassten einander, sie würden sich arrangieren müssen.
»Lang ist’s her, das stimmt …«
»Sind wir nicht mehr böse?«
»Warum, waren wir das denn mal?«
Forestier lächelte bissig. Der Streit, der die beiden entzweit hatte, gehörte nicht zu
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