Wer ist eigentlich Paul?
-und-ich-sollte-unterwegs-sein»-Krise hatte. Nein. Wirklich nicht. Dass ich mir ab und an selbst SMS schicke, um zu testen, ob vielleicht das Handy kaputt ist (sie kommen immer an, also hat mich doch keiner lieb), gilt nicht. Auch nicht, dass ich mich kürzlich von Computer-Hannes ins Roma (uah!) einladen ließ, weil mir zu Hause die Decke auf den Kopf fiel. Es kam halt nichts im Fernsehen, und ein gutes neues Buch war auch nicht greifbar. In diesem Punkt mache ich also beruhigt einen Haken hinter «erwachsen» und denke weiter nach. Weiß ich, was ich will?
Als ich circa 14 war, wusste ich genau, was ich wollte: nichts mehr tun müssen, was ich nicht will. Und einmal mit Sabines Bruder knutschen. Letzteres erreichte ich schlappe drei Jahre später, indem ich selbigem beim Frühlingsfest drei mit Schnaps gepanschte Maß Bier einflößte und den Willenlosen dann in mein Kinderzimmer im Haus meiner toskanaurlaubenden Eltern verschleppte. Dort knutschte ich mit ihm. Mehr wurde leider nicht draus, wie man sich vorstellen kann. Eine jungfräuliche 1 7-Jährige , die ein bisschen zu wenig «Bravo» gelesen hat, ein ebenso unschuldiger 1 9-Jähriger mit ungefähr zwei Promille und ein (!) aus dem väterlichen Nachtkästchen geklautes Kondom mit dem Haltbarkeitsdatum von 1977 – das ist nicht gerade der Stoff, aus dem nachtfüllende Sexorgien sind. Aber ich schweife vom Thema ab.
Gleich nach dem Abi hatte ich geschafft, was ich wollte. Ich tat nichts mehr, was ich nicht wollte. Keine Klavierstunden mehr, kein Basissport am Donnerstagnachmittag, kein «Räum dein Zimmer auf, morgen kommt die Putzfrau» – ich war frei. Und glücklich.
Doch jetzt tue ich schon zehn Jahre lang nichts mehr, was ich nicht will, von Steuererklärungen, Frauenarztbesuchen und Reifenwechseln mal abgesehen. Und langsam, aber sicher drängt sich die Frage auf: Was will ich? Wie soll mein Leben aussehen? Mir fällt ein Gespräch ein, das ich vor einiger Zeit zu fortgeschrittener Stunde mit Charly, einem Freund von Max, im Lido alias Eat the Rich führte. Es bestand darin, dass wir uns stundenlang Stichworte zuwarfen. «Was wir lieben, was wir hassen» war der Titel dieser höchst anregenden Unterhaltung, die eigentlich keine war.
Was ich liebe: im Winter abends durch die Straßen gehen und heimlich in die erleuchteten Fenster gucken. Duschen. Aus dem Kino kommen und sich so komisch unwirklich fühlen. Im Biergarten knutschen und nicht merken, dass ein Gewitter vor dem Losbrechen steht und alle anderen Leute heimgegangen sind. Lieder mit Menschen verbinden, für immer. Die druckfrische «Süddeutsche» am Samstagvormittag. Das Gefühl, mal wieder ans Meer fahren zu wollen.
Was ich hasse: mich beim Einparken verschätzen und gegen den Randstein fahren. Aus einem schönen Traum durch Media-Markt-Werbung geweckt werden. Überhaupt aus einem schönen Traum geweckt werden. Abends in der Kneipe sitzen und eigentlich lieber in der Badewanne sein wollen. Keine Zeit für Tagträume haben. Jemanden in mich hineinschauen lassen und dann merken, dass es ihn nicht interessiert.
Was ich liebe: allein sein, wenn ich allein sein will. Apfelschorle mit viel Wasser, wenn ich durstig bin. Ohne Sattel auf meinem Pferd durch den Wald reiten. Einen Tag mit Sport draußen verbringen und abends müde und erschöpft sein. Schlafen dürfen, wenn ich müde bin. Einen Menschen unterschätzt haben. Pfefferminztaler von Wissoll. Bei Föhn die Berge sehen und Sehnsucht nach ihnen bekommen. Milch in schwarzen Tee gießen und mich über die wolkigen Muster freuen. Britische Filme, in denen Pubs mit Teppichboden vorkommen.
Und so weiter. Doch hilft mir das bei der Frage: Was will ich? Ein bisschen. Aber lange nicht genug. Ich muss weiter darüber nachdenken.
DONNERSTAG, 21. NOVEMBER 2002 – FUSSBALL UND SEINE FOLGEN
Ich komme nicht zum Nachdenken, weil immer etwas los ist. Vielleicht muss man sein kleines Leben zwischen Job(s), Supermarkt, Fernsehcouch und Kneipe nur abwechslungsreich genug gestalten, um die Frage nach dem eigentlichen Ziel bewusst aus den Augen zu verlieren. Vielleicht liegt der Sinn des Lebens darin, sich nicht zu viele Gedanken über ihn zu machen, sondern einfach zu leben. Wenn man sich im Fernsehen Interviews mit Leuten anhört, die auf irgendeine Art und Weise gehandicapt sind (Behinderung, Krankheit, Gefängnis etc.), äußern sie stets nur einen Wunsch, sie wollen «ein ganz normales Leben führen». Unter einem «ganz normalen Leben» stelle
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