Wer Liebe verspricht
überflüssig.«
»Hat Ransome dir gesagt, warum? Ich habe deine Kutsche gestern in der Clive Street gesehen.«
Ein leichter Schauer lief ihr über den Rücken, und sie bekam eine Gänsehaut. Er war also in der Nähe gewesen, und sie hatte es nicht gewußt! »Gibt es eigentlich etwas, das du nicht weißt?«
»Wie könnte ich deinen Respekt vor meinem Spionagesystem sonst aufrechthalten?« Er beugte sich vor und griff wieder nach den Rudern. »Ich weiß, wie man überlebt, vergiß das nicht. Und Wissen ist meine beste Waffe.«
Sie glitten wieder schneller durch den Nebel, der sie wie die durchscheinenden Wände eines riesigen Palastes umgab. Das leise Klatschen der Ruder klang hohl. Nur vereinzelte lachsrote Flecken am morgendlichen Himmel erinnerten daran, daß sich ihre kleine Welt auch noch in der anderen befand. Jais Knie waren ihr so nah, daß sie bei der kleinsten Bewegung mit den ihren in Berührung gekommen wären. Olivia hätte am liebsten ihre Wange an seine Brust gelegt, um sich zu vergewissern, daß sein Herz mit ihrem Herzen Schritt hielt, das vor Erregung wie Kastagnetten schlug. Aber sie bewegte sich nicht, sondern begnügte sich damit, ihn anzusehen. Sie war zufrieden, daß er zumindest im Augenblick ihr Gefangener war, mit dem sie tun und lassen konnte, was sie wollte. Selbst wenn diese kurzen Augenblicke in wortlosem Schweigen vorübergingen, waren sie ihr kostbar und teuer. Sie wollte die Harmonie nicht gefährden, das empfindliche Gleichgewicht des Seelenfriedens, und deshalb tat sie nichts.
Er hörte wieder auf zu rudern. Mit einem Seufzen – weil er ebenso zufrieden war wie sie, hoffte Olivia – legte er sich zurück und schloß die Augen. »Warum siehst du mich an?« fragte er kurz darauf.
Erschrocken richtete sie sich auf und wandte den Kopf ab. »Hast du außer deinen anderen bösen Kräften auch die Fähigkeit, mit geschlossenen Augen zu sehen?«
Er schlug die Augen auf. »Ich brauche keine Augen, um dich zu sehen, Olivia.« Er setzte sich, nahm ihre Hand und küßte nacheinander jede einzelne Fingerspitze. »Du kannst dich nicht vor meinem inneren Auge verstecken.«
Die Hand, die er hielt, zitterte, als sich ihre Finger ineinanderschoben. Hitzewellen jagten durch ihre Adern. In diesem Augenblick liebte sie ihn so sehr, daß sie vor Schmerz beinahe gerufen hätte: Wer bist du? Was bist du? Woher kommst du, und wohin wirst du gehen …? Die Sehnsucht, ihn wirklich zu kennen, überwältigte sie, aber sie nahm sich zusammen und fragte beiläufig: »Hast du in letzter Zeit Kinjal gesehen? Ich habe ihr in der vergangenen Woche einen Brief geschrieben.«
»Ja, sie hat sich sehr darüber gefreut.« Er drehte ihre Hand so, daß sie auf seiner breiten Handfläche lag, und betrachtete sie eingehend wie einen kostbaren Gegenstand, den er nicht einordnen konnte.
»Kinjal geht es gut. Ihre Kinder sind wieder in Kirtinagar.«
Olivia wagte eine weitere Frage. »Und … Arvind Singh?«
Er ließ ihre Hand los und legte sie behutsam in ihren Schoß.
»Du hast von Ransome erfahren, daß wir miteinander kämpfen. Möchtest du wirklich etwas darüber erfahren?«
Olivia seufzte. »Ich möchte dich nicht zum Feind haben, Jai. Du hast etwas an dir, das mir Angst macht. Ja, du hast recht, ich möchte etwas darüber erfahren.«
»Nun ja, es stimmt.« Er wirkte ganz ruhig. »Arvind läßt sich von Sir Joshuas Köder locken – ich nicht. Und Das möchte seine Kommission. Deshalb stiftet er Unfrieden, wo er nur kann.«
Olivia empörte sich über seine Gelassenheit. »Wie kannst du eine so tiefe und lange Freundschaft wegen einer rein geschäftlichen Angelegenheit aufs Spiel setzen?« rief sie. »Ist das die Sache wirklich wert?«
Jai sah sie überrascht an. »Nein. Geschäftliche Meinungsverschiedenheiten haben nichts mit unserer Freundschaft zu tun. Wir waren schon oft unterschiedlicher Meinung.«
»Aber du hast gesagt, ihr kämpft miteinander …!«
Er lächelte plötzlich und sah sie freundlich an. »Ich habe das nicht wörtlich gemeint. Geschäftliche Streitigkeiten unter Männern können sehr heftig werden, aber sie sind selten persönlich.« Er lachte.
»Nur Frauen erklären den totalen Krieg, wenn sie aufeinander losgehen«, meinte er bissig.
Olivia konnte es nicht fassen, daß gerade er so etwas sagte, aber sie beließ es dabei. »Dann ist deine Freundschaft mit Arvind Singh nicht in Gefahr?«
»Nein.«
»Aber wenn sein Bewässerungsprojekt in Gefahr gerät …?«
»Soweit wird
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