Wer Liebe verspricht
verabredet.
»Toll!« Estelle freute sich darüber, daß sie ohne die Eltern ausfuhren. »Jetzt können wir uns sein Schiff einmal richtig ansehen. Einer der Klipper ist gestern nacht eingelaufen.« Olivia schwieg. Offenbar konnte ihre Entschlossenheit, Jai Raventhorne zu meiden, nicht verhindern, daß er auf die eine oder andere Weise in ihrem Leben auftauchte. Und so überlief sie unfreiwillig ein Schauer freudiger Erregung. »Der Klipper hat für die Strecke von New York nach Hongkong einhundertvier Tage gebraucht und ist von Kanton in nur einundachtzig Tagen nach New York zurückgefahren – nicht zu glauben.«
Zweifellos war das eine unglaubliche Leistung, aber Olivia glaubte es. Widerwillig bekam sie allmählich Respekt vor dem Talent ihrer Cousine, Informationen zu sammeln, die sich als wahr herausstellten. »Ach ja?«
»Ja. Susan hat es mir gesagt. Ihr Vater kennt den Kapitän. Und die Durzee von Susans Mutter …«, obwohl niemand es hören konnte, beugte sie sich zu Olivia hinüber, die neben ihr in der Kutsche saß, und fuhr leise fort, »… also Susan sagt, sie näht auch Kleider für … für diese Eingeborene, die Geliebte dieses Mannes. Man sagt, sie ist eine Tänzerin aus der Straße an Fenwicks Basar, und sie ist sehr schön – natürlich in der Art der Eingeborenen. Susan sagt, die Schneiderin hat ihrer Mutter erzählt, daß sie …«
»Estelle! Wenn du dir doch nur nicht immer den Klatsch anhören würdest! Das ist … einfach billig.« Olivias Zurechtweisung fiel schärfer aus als beabsichtigt.
»Billig? Du meine Güte! Wenn ich mir keinen Klatsch anhöre, wie soll ich dann jemals erfahren, was in der Welt vor sich geht?«
»Du könntest Bücher und Zeitungen lesen, wenn dich das Geschehen in der Welt interessiert. Wenn dir all die vielen Gouvernanten, die lange genug unter dir zu leiden hatten, etwas beigebracht haben, dann doch sicherlich wenigstens Lesen und Schreiben.«
Der Sarkasmus ihrer Cousine glitt an Estelle ab wie Regentropfen an einem Schirm. »Ach, ich meine doch nicht solche Ereignisse, ich meine wirkliche Neuigkeiten. Jedenfalls sagt die Schneiderin von Susan Bradshaws Mutter, daß er sie gekauft hat, wie eine dieser …«
»Wollen wir nicht anhalten und zu Fuß weitergehen, Estelle? Es ist ein so schöner Abend, und es wäre schade, das nicht auszunützen.«
Ehe ihre Cousine etwas erwidern konnte, stand Olivia auf der Straße – und war wütend über sich. Estelles albernes Geplapper hatte wieder einmal die beunruhigende Vorstellung von Sujatas sinnlichem, zu Raventhornes Vergnügen entblößten Körper heraufbeschworen – und seine zweifellos leidenschaftliche Reaktion darauf. Olivia begann, solche Gedanken allmählich zu hassen.
Aber es war wirklich ein schöner Abend. Wattewolken, die aussahen wie rosa Flamingos, zogen über den sich langsam rot färbenden Himmel. Überall auf der Promenade und in den Anlagen waren Familien unterwegs. Verliebte schlenderten Arm in Arm und unterhielten sich mit gedämpften Stimmen. Zwischen den Spaziergängern spielten Kinder mit Reifen und schrien so übermütig und laut, daß ihre Mütter und Kindermädchen ihnen stirnrunzelnd strenge Blicke zuwarfen. Die beiden Cousinen gingen nebeneinander, und viele Herren zogen die Hüte, viele Damen lächelten ihnen zu, denn nur die Neuankömmlinge in der Stadt kannten die Tochter und die Nichte der Templewoods nicht.
»Siehst du, dort!« rief Estelle plötzlich halblaut und umklammerte Olivias Arm. »Es ankert mitten im Fluß in der Nähe der Dhoolie- Boote. Du kannst es nicht übersehen.«
Olivia blickte in die Richtung, in die Estelle wies, und versuchte, den Klipper zu entdecken. Der Fluß war übersät mit Schiffen aller Klassen, Größen und Nationalitäten – Ostindienfahrer, die ›Teepötte‹ der Ostindien-Kompanie, Schaluppen, Rahsegler, Kriegsschiffe der Königlichen Marine, einheimische Kähne und Fischerboote. Kalkutta war einer der belebtesten Häfen im Osten, und wie alle Häfen umgab ihn ein Hauch von Abenteuer, von Zauber und Geheimnissen. Olivia versuchte gleichgültig zu bleiben, aber sie spürte ein Ziehen im Magen, als sie das Opernglas an die Augen führte, das Estelle ihr gereicht hatte. Ja, der Klipper war im Gewirr der Schiffe unverkennbar. Es war ein langer, eleganter Dreimaster mit einem höheren Rumpf als alle anderen Schiffe. Die Segel waren zusammengerollt. Auf Deck sah sie kleine Gestalten, die geschäftig hin und her liefen und Laternen
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