Wer viel fragt
Ich gönnte
mir noch einen Becher Tee.
Ich rief Miller an. Das heißt,
ich rief im Präsidium an und fragte nach Miller. Nicht da, aber er
habe irgendwas für mich hinterlegt. »Sind Sie Mr. Samson?
Sergeant Miller hat einen Umschlag für Sie hinterlegt. Wann möchten
Sie ihn denn gern abholen?« Ich mochte ihn gern sofort abholen. Ich
wußte, daß der Diensthabende nicht mein Nüßchen
war. Das konnte ich an der Grammatik erkennen. Ich fragte mich langsam,
was aus armer alter Tauber Nuß geworden war. Ich wußte es
immer noch nicht. Ich werde wohl mal dran denken müssen, Miller
irgendwann danach zu fragen.
Ich nahm den Aktenordner von
einem manierlichen jungen Cop entgegen, der in der Bereitschaft aushalf.
Ich ging nach Hause und holte auf dem Weg die Dinge ab, die ich nebenan
zwischengelagert hatte.
Ich hatte die Wahl. Leanders
Buchführung oder die Einwanderungsakte.
Ich knöpfte mir die
Einwanderungsakte vor.
Annie Lombard; Französin,
unverheiratet, zum Zeitpunkt ihrer Einreise in die Vereinigten Staaten am
17. April 1954 neunzehn Jahre alt. Aufenthaltsgenehmigung.
Fingerabdrücke in der
Anlage. Adresse in den Vereinigten Staaten: Fünfzigste Straße
Ost, Nr. 413, Indianapolis, Indiana.
Das amerikanische Konsulat in
Marseille bescheinigte, daß ihr nachweisbares Vermögen über
neuntausend Dollar betrug und ihr Verlobter, ein Amerikaner, ihr in einem
Brief ›garantiert‹ hatte, daß sie dem Staat nicht zur
Last fallen werde.
Im April 1955 fand sich zum
ersten Mal der Vermerk, weder habe sich eine Annie Lombard wie
vorgeschrieben gemeldet, noch sei registriert worden, daß sie das
Land verlassen habe.
Dann hatte das Ausländeramt
den Fall dem Justizministerium übergeben, nachdem man herausgefunden
hatte, daß sie nicht mehr unter der angegebenen Adresse zu finden
war und die seit kurzem unter betreffender Adresse wohnhaften Personen
nichts über ihren Verbleib wußten.
In einer Erklärung dazu
war vermerkt, vermutlich habe sie entweder das Land verlassen und ihre
Abreise sei amtlich nicht erfaßt worden, oder sie halte sich illegal
weiter in den Staaten auf. Es wurde außerdem um weitere
Informationen bezüglich dieser ›verschwundenen Ausländerin‹
gebeten, die die Polizei von Indianapolis möglicherweise beisteuern
konnte.
Insgesamt ein faszinierendes
Dokument. Äußerst faszinierend, wenn man seine Informationen
mit denen zusammenfügte, die ich bereits hatte.
An der angegebenen Adresse
waren niemals ›Freunde‹ erschienen. Nur ein kahlköpfiger
Mann und neugierige Nachbarn. Sie war im September 1954 von dort
verschwunden, nicht später, und sie war schwanger gewesen. Was war
aus der Dame geworden? Nach Frankreich zurückgeschickt? Oder ist sie
in einer Vorahnung des Winters von Indiana nach Mexiko gegangen und von
dort aus weiter, wohin auch immer sie wollte?
Und das Baby? Sie war ledig,
neunzehn, begütert und schwanger. Eine Situation, die meist nicht
unverändert die vollen neun Monate über bestehen bleibt. Für
gewöhnlich passiert irgend etwas, es wird geheiratet, man bringt sich
um oder macht etwas locker, um den Untermieter loszuwerden.
Ich fragte mich, im
wievielten Monat schwanger sie wohl gewesen war, als sie sich in der Fünfzigsten
Straße präsentiert hatte.
Insgesamt wirklich
faszinierend.
Ich nahm die Aufstellung von
Leander Crystals Einnahmen aus der Jackentasche und ging jedes einzelne
Blatt ganz sorgfältig durch. Es waren insgesamt nicht allzu viele,
und wenn ich auch nicht behaupten kann, ich hätte begriffen, worum es
sich bei jedem einzelnen Eintrag handelte, stellte ich mich doch sehr viel
geschickter an, wenn es darum ging festzustellen, worum es sich nicht
handelte. Worum es sich nie handelte, war die Miete für das Haus in
der Fünfzigsten Straße.
Womit noch nichts bewiesen
war. Ich konnte keineswegs sicher sein, daß die Unterlagen komplett
waren oder daß ich einen Mieteingang wirklich erkannt hätte.
Aber nachdem ich alles
durchgesehen hatte, war ich ziemlich sicher. Sicher genug, um ein paar
Spekulationen anzustellen.
Wie zum Beispiel um die
Frage, ob Annie Lombard vielleicht doch einen Freund in Indianapolis
gehabt hatte. Um das Warum und Wie und diverse andere Fragen, die die
Einrichtung dieses Etablissements betrafen. Von denen die beste Frage die
ihrer Schwangerschaft war. Ich kannte einen Vermieter, der sie nicht
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