Whisper (German Edition)
dass man trotz einer „Behinderung“, Berge versetzen kann. Jasmin hat mir die Augen für diese Wildnis geöffnet, die bei Weitem nicht leer ist, sondern eine Fülle an Geheimnissen birgt, für die wir in München kein Auge entwickeln. Ein Spatz ist für die Meisten nur ein bedeutungsloser Spatz. Für Jasmin ist es ein Lebewesen, der Respekt verdient, und genau das möchte ich auch weitergeben können. Und auch die anderen …“
„Markus, warte!“
Der Junge stockte, drehte sich um und sah, wie Judith mit ihren Krücken auf ihn zu humpelte. Er empfing sie mit helfenden Händen, stützte sie auf einer Seite.
„An dieser Stelle will ich gerne für mich selbst sprechen!“ Sie fixierte den Blick des Mannes vor sich, schien ihn durchbohren zu wollen, bevor sie sich wieder abwandte und kurz zu der Frau hinüber sah. „Mein Name ist Judith. Auch ich gehöre zum Team von Six Soul und ich werde die Zeit, die ich hier verbringen durfte, nie wieder in meinem Leben vergessen. Vor etwa zwei Monaten habe ich meine Mutter krankenhausreif geschlagen. Auch heute sind ihre Wunden noch nicht vollständig verheilt, und sie sah ihre und meine Rettung darin, mich hierher zu schicken. Ich habe sie dafür bis in alle Ewigkeiten verwünscht, und war entschlossen, mich nicht drehen zu lassen. Ich bin von Anfang an sehr grässlich zu Jasmin gewesen. Sie war anders als wir, und gerade ich habe sie ausgegrenzt und auch andere dazu verleitet, dasselbe zu tun. Für mich war Jasmin ein billiges Opfer. Ich wollte sie fertigmachen, habe mich tierisch gefreut, als sie damals in den Wald geflüchtet ist. Eigentlich müsste sie mich hassen, für das, was ich ihr in ganz kurzer Zeit angetan habe. Aber das hat sie nicht. Ohne sie hätte ich vielleicht mein Bein nicht mehr, oder was noch viel schlimmer wäre, vielleicht wäre ich ohne sie draufgegangen. Sie hat mich nie spüren lassen, dass ich anfangs unfair und gemein zu ihr war. Sie lehrte mich, füreinander da zu sein, und an das Gute im Menschen zu glauben. Und sie lehrte mich auch, dass die Natur Dinge beheimatet, die in keinem Lehrbuch geschrieben stehen. Sie zeigte mir, zu hören und zu fühlen. Die Wildnis in diesem Land kann einem so viel geben, aber man muss genau zuhören, so wie Jasmin ein Anrecht darauf hat, dass man ihr zuhört.“
Als ob die beiden damit ein Feuer entfacht hätten, kam jetzt auch Edith nach vorne und baute sich neben Judith auf, passte dabei auf, nicht an ihre Krücken zu geraten.
„Mein Name ist Edith“, begann sie zart und ihre helle, fiepende Stimme klang auf einmal ruhig und besonnen. „Ich gehöre auch mit zum Six Soul Team. Ich habe mich früher als Hure verkauft und habe eine harte Ausbildung auf der Matratze genossen. Für eine Weile hatte ich sogar einen Zuhälter. Als ich hierherkam, dachte ich mir, es müssten schnöde drei Wochen werden, so allein im Nichts und Nirgendwo. Aber das war nicht so. Hier lebt man im Einklang mit der Natur. Jedes Tier und jede Pflanze, die hier draußen wächst, hat es verdient, mit Achtung behandelt zu werden. In München werden im Schlachthof jeden Tag hunderte von Tieren getötet. Ich weiß das, ich lebe genau daneben. Man gewöhnt sich an das Geschrei und an den Geruch von Blut. Aber man soll sich nicht dran gewöhnen. Diese Tiere sorgen dafür, dass wir überleben und man sollte ihnen dafür danken. Hier draußen herrscht Krieg und Frieden gleichzeitig. Das Wort Fairnesslosigkeit gibt es nur unter Menschen. Und es war Jasmin, die mir gezeigt hat, dass man sein Umfeld ehren und achten sollte. Zu diesem Umfeld gehört auch das Team. Nur zusammen haben wir durchgehalten. Und das haben wir Jasmin zu verdanken.“
Edith machte Platz für Christina, die es sich nicht nehmen ließ, ebenfalls nach vorne zu treten.
„Mein Name ist Christina und bisher bestand mein Leben aus Streit mit den Eltern und dem Zustand des alkoholischen Deliriums. Auch ich war anfangs nicht besonders freundlich zu Jasmin und bewundere sie dafür, mit welcher Geradlinigkeit sie für uns da gewesen ist. Jetzt weiß ich, dass es Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die nicht in Worte gefasst werden sollten, und die nicht erklärbar sind. Man muss sie fühlen und spüren. Jasmin und die Wildnis, man sollte gewisse Dinge nicht trennen.“
Auch sie rückte zur Seite, um Patrick heranzulassen. Die gesamte Reihe der Gruppe stand nun geschlossen vor Jasmin, die sich eng an David lehnte und kaum glauben konnte, was ihr gerade zuteil wurde. Noch nie in
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