Whisper Island (01) - Sturmwarnung
spüren, wie sehr es Jenn in den Fingern kribbelte, es ihr wegzunehmen und den Umschlag zu zerreißen. Aber stattdessen stapfte sie nach hinten und fläzte sich auf einen Stuhl. So viel zum Thema Sicherheit, dachte Becca. Sie hatte sich dieses Mädchen offensichtlich im Handumdrehen zur Feindin gemacht.
Becca spürte, wie sich Derric neben ihr bewegte, und warf ihm einen schnellen Blick zu. Sie sah, dass er mit den Fingern das Zeichen für »alles bestens« machte. Seine Finger waren lang und feingliedrig, und das Zeichen, das sie formten, war ganz allein für sie bestimmt. Mach dir keine Sorgen , teilten sie ihr mit, so als wüsste Derric, was sie gerade empfand.
Mr Powder fuhr mit dem Unterricht fort. Niemand hörte ihm zu, und wer konnte es ihnen verdenken? Seine Stunde war sterbenslangweilig und er klang so, wie kalter Haferbrei schmeckt. Er änderte seinen Tonfall kein einziges Mal. Als am Ende der Stunde endlich die Schulglocke erklang, hatte Becca das Gefühl, sie hätte über eine Woche in dem Raum gesessen.
Während die Schüler anfingen, auf den Flur zu drängen, sprach Derric sie an. Mit seinen 1,80 Metern überragte er sie um einiges, sodass er sich nach vorne beugen musste, um ihr mit einem Grinsen zu sagen: »Ich würde dir ja gerne sagen, dass seine Stunden nicht immer so öde sind, aber das wäre gelogen. Was hast du als Nächstes?«
Sie schaute auf ihren Stundenplan. »Physik«, erwiderte sie.
»Komm. Ich zeig dir, wo der Raum ist.«
Die Mittagspause war um elf, nach der zweiten Stunde. Derric hatte ihr gesagt, sie solle vor dem Unterrichtsraum warten, er würde sie dort abholen und ihr zeigen, wie die Dinge im neuen Gemeinschaftsraum liefen. Deshalb stand sie jetzt vor dem Klassenzimmer und bemühte sich, unauffällig zu bleiben. Aber als er schließlich auftauchte, hatte er Jenn im Schlepptau, so als hätte sie sein Versprechen gehört, Becca zu zeigen, wo es Mittagessen gab, und sich überlegt, wie sie ihr am besten Magenschmerzen bereiten konnte.
Die Blicke, die das Mädchen ihr zuwarf, gaben ihr unmissverständlich zu verstehen, dass sie so schnell wie möglich tot umfallen sollte, und Jenn sagte: »Ich kann’s nicht fassen, dass du auch die Mittagspause mit ihr verbringen musst.«
Sie schob ein Fluchen hinterher, bei dem sich ihr Gesicht hässlich verzog. Becca spürte, wie Derric das Wort abwehrte, so als versuche er, sich mit erhobenen Händen vor einer faulen Tomate zu schützen, sagte jedoch nichts.
Becca stellte fest, dass die South Whidbey Highschool kein bisschen wie die Schule war, auf die sie in San Diego hätte gehen sollen. Dort waren ihres Wissens zweitausendfünfhundert Schüler eingeschrieben, sodass sie zu unterschiedlichen Zeiten zu Mittag essen mussten. Hier aßen alle Schüler offenbar zusammen, wobei sich etwa sechshundert Jugendliche über zwei Gemeinschaftsräume, den neuen und den alten, verteilten. Sie folgte Derric und Jenn und erkannte den Gemeinschaftsraum vom Morgen wieder. Sie drehte die Lautstärke der AUD-Box auf, um das Flüstern Hunderter Leute auszublenden.
Derric blickte einmal hinter sich, um sich zu vergewissern, dass sie noch da war. Jenn lenkte seine Aufmerksamkeit absichtlich wieder auf sich. Becca fragte sich, ob Jenn ihr zeigen wollte, dass der Junge ihr gehörte. Am liebsten hätte sie ihr gesagt, sie solle sich keinen Zwang antun. Solange sie wie eine wandelnde Müllkippe mit Make-up aussah, bestand sowieso nicht die geringste Chance, dass er sich für sie interessierte.
Fast jedes Mädchen, dem sie begegneten, grüßte Derric. Viele der Jungs ebenso. Nur dass die Jungs ihn nicht Derric nannten. Sie riefen ihn Nyombe oder Big Math oder Der. Das alles kam Becca sehr merkwürdig vor, weil es Derrics erstes Jahr an der Highschool war und ihn deswegen eigentlich alle hätten links liegen lassen müssen.
Sie stellten sich in die Essensschlange und Jenn zwängte sich forsch zwischen Becca und Derric. Als Becca an der Reihe war wusste sie, dass sie bei der Essenswahl vorsichtig sein musste. Debbie hatte ihr kein Essensgeld gegeben, was sie auch nicht erwartet hatte, und sie musste mit dem Geld, das sie noch übrig hatte, sparsam umgehen. Daher kaufte sie sich nur ein Erdnussbuttersandwich und beachtete Jenn nicht weiter, als diese an der Kasse zu ihr sagte: »Willste mal sehen, wie viel Kohle ich dabeihab?« Aber die Bemerkung war reine Gehässigkeit, weil Jenn ihr Mittagessen von zu Hause mitgebracht hatte. Offenbar hatte sie sich nur in die
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