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White Horse

White Horse

Titel: White Horse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Adams
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könnte.«
    Â»Hör ihm einfach zu. Wir leben in finsteren Zeiten, meine Liebe, und
selbst Höhlenmenschen brauchen ab und zu eine Schulter, an der sie sich
ausweinen können.«
    ZEIT: JETZT
    Es gibt keinen triftigen Grund dafür, dass ich den Esel
Esmeralda nenne. Der Name passt ganz einfach. Ich weiß nicht warum, aber wenn
ich ihn ausspreche, ist es, als würde ich an einem kalten Tag meinen
Lieblingspullover überstreifen.
    Sie folgt mir bereitwillig, meine Esmeralda, trotz all der Marotten
ihrer störrischen Rasse. Vielleicht weiß sie, dass es in der Nähe von Menschen
am ehesten Futter gibt. Oder sie sucht ein wenig Gesellschaft und findet mich einigermaßen
erträglich. Oder sie braucht einfach das Gefühl, jemandem zunutze zu sein.
    Also schleppen wir abwechselnd den Rucksack. Dass sie im Lauf der
Geschichte vom Menschen zum Lasttier gemacht wurde, heißt nicht, dass ich das
Gleiche zu tun gedenke. Ich übernehme meinen Anteil an der Mühsal. So oder so,
trottet sie an ihrem Strick hinter mir her. Wenn sie stehen bleibt, folge ich
ihrem Beispiel. Esmeralda beherrscht die Kunst, Wasser und Futter aufzuspüren.
    Das Lager der Roma liegt jetzt Meilen hinter uns. Ich weiß nicht,
wie viele es genau sind. Zwei Tagesmärsche, was immer das in Zahlen bedeutet.
Ich bin auf dem Weg nach Delphi. Ja, ich erinnere mich an die Geschichten der
Roma von der gruseligen Frau, die dort lebt. Medusa mit den Schlangenhaaren,
deren Anblick jeden zu Stein erstarren lässt.
    Ein weiterer Tag schleicht vorüber, gefolgt von der Nacht und einem
neuen Tag. Die Straße wird immer enger, je näher Delphi kommt. Oder vielleicht
erscheint sie mir nur so, zusammengepresst und in düstere Farben gepackt durch
die Legenden der Roma.
    Was ich mir nicht einbilde, ist der Riss in der Erde, der vor uns
liegt, als wir um eine sanfte Kurve biegen – eine reale Kluft, so tief und
breit, dass ein Fortkommen unmöglich ist. Unvermittelt fängt das kleine Wesen,
das in mir heranwächst, heftig zu strampeln an, als spürte es meine Sehnsucht
und versuchte mich aufzumuntern. Ich presse eine Hand eher streng als
beruhigend gegen meinen Bauch und bleibe stehen, um meine Möglichkeiten
abzuwägen.
    Es gibt noch eine andere Straße. Sie hat keine Asphaltdecke, sondern
ist ein Trampelpfad durch staubiges Gras, der im Zickzack erst nach Norden,
dann nach Osten und schließlich wieder nach Norden führt, bis er in der Ferne verschwindet.
Was mir Kopfzerbrechen bereitet, ist weniger, dass er
verschwindet, sondern wohin er verschwindet. Während
die Straße quer durch Ortschaften und freie Landschaft schneidet, schlängelt
sich der Pfad auf eine Art Böschung aus Unterholz und Olivenbäumen zu, bohrt
sich in die grüne Wand und taucht darin ein.
    Es müsste einen Wegweiser geben, aus verwitterten Brettern und einem
in den Boden geschlagenen Pfosten, mit einer früher mal weißen, inzwischen aber
kaum noch leserlichen Inschrift, die vor dem Weitergehen warnt. Aber da ist
nichts, nicht einmal ein Loch im Gras, wo früher mal ein Holzpflock gestanden
haben könnte. Das Fehlen eines Warnschilds selbst ist Warnung genug: Durchgang verboten!
    Eine böse Vorahnung erfasst mich und breitet sich aus, bis mein
Körper vor Angst zu platzen droht. Was würde Nick mir raten? Angenommen, wir
säßen uns locker plaudernd an dem niedrigen Tisch in seinem behaglichen
Sprechzimmer gegenüber – welche Tipps zur Bewältigung dieser Situation würde er
mir geben? Ich atme tief ein, halte die Luft an, bis meine Brust sticht, und
atme dann ganz leicht und locker wieder aus, weil ich weiß, was er sagen würde.
    Er würde mir zureden, es darauf ankommen zu lassen, das Unbekannte
zu erforschen. Es ist nur so lange fremd und bedrohlich, bis wir ihm ins
Gesicht schauen und sagen: Hey, wie geht’s dir?
    Â»Hey, wie geht’s dir?« Ganz leise, ohne ihnen ein größeres Gewicht
beizumessen, murmele ich die Worte vor mich hin. Ich möchte das Schicksal auf
gar keinen Fall dadurch herausfordern, dass ich mein Kommen ankündige. So
starre ich dem Unbekannten ins Gesicht und hoffe, dadurch die
Weltuntergangsstimmung zu vertreiben.
    Plötzlich schnaubt Esmeralda und trommelt erregt mit den Hufen gegen
den Boden.
    Â»Sachte, mein Mädchen, ganz sachte«, flüstere ich und horche. Das
Gefühl, dass jemand – oder etwas – in der Nähe

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