White Horse
nichts aus, denn mein Wunsch ist
in Erfüllung gegangen.
Es macht mir nichts aus, weil ich mein Ziel erreicht habe.
Der Hafen von Brindisi ist ein Friedhof. Mächtige, längst von
ihren Besatzungen verlassene Stahlungetüme ragen wie Riesenwale aus Becken.
Einige liegen schräg, dem Untergang geweiht, sobald sie sich mit Wasser gefüllt
haben. Kleinere Boote schaukeln wie Korken auf und ab. Die Flut spült sie dem
Land entgegen und zerrt sie wieder hinaus, wie ein Kind, das mit einem Jo-Jo
die Erdanziehung erprobt. Begleitet wird die Bewegung vom sanften Klatschen der
Wellen gegen die Docks. Ich rieche und schmecke Salz.
»Und wohin jetzt?«, blafft mich der Schweizer an.
Ich schirme meine Augen mit einer Hand gegen den Regen ab. Nachdem
wir wochenlang alle Ortschaften gemieden hatten, überwältigen mich nun die
Eindrücke der GroÃstadt. Ich kann keine Details im Gesamtbild erkennen. Die
Stadt umschlieÃt den Hafen mit einer Betonhand. Ich gehe am Ufer entlang und versuche
das Panorama in leichter verdauliche Stücke aufzuteilen.
AuÃer dem Namen weià ich nichts über das Boot, das mich hier abholen
soll. Frustriert laufe ich hin und her und versuche Worte zu entziffern. Zu
viele dieser Kähne sind mit kyrillischen oder griechischen Buchstaben
beschriftet. Zu wenige in Englisch.
Er geht ebenfalls auf und ab und späht in den leeren Terminal hinter
uns.
»Wohin?«
Lisa will zwischen uns vermitteln. Sie bleibt im Regen stehen,
anstatt sich irgendwo unterzustellen.
»Ich weià es nicht.«
»Erst schleppst du mich hierher und dann weiÃt du nicht, wie es
weitergeht.«
»Ich habe dich nicht gebeten, uns zu begleiten.«
»Ohne mich wärt ihr längst tot. Alle beide.«
Ich lasse ihn stehen. Ich kann nicht anders. Die Gefahr, dass ich
eine Schuld auf mich lade, die ich für den Rest meines Lebens nicht mehr
loswerde, ist einfach zu groÃ. Und ich muss mit den Folgen meines Handelns
leben können. Das ist wichtig für mich. In der realen Welt packe ich einen
Stuhl und zerschlage damit einen Proviantautomaten im Terminal. Ich leere die
Fächer aus und verteile den Inhalt auf drei kleine Stapel. Einen für Lisa,
einen für den Schweizer und einen für mich. Ich nehme meinen Anteil und lasse
mich im Schneidersitz auf dem Kai nieder, ohne auf den Regen zu achten. Meine
ganze Sorge gilt dem Boot und der Frage, ob es wie versprochen hier einlaufen
wird.
Die anderen warten auch, aber nicht mit meiner Hartnäckigkeit. Der
Schweizer zieht Lisa in den Terminal, und sie hat nichts dagegen einzuwenden.
Spätabends sitzen wir bei Chips und lauwarmer Limonade zusammen.
»Sag ein Wort, und ich sorge dafür, dass er dich in Ruhe lässt.«
»Ich muss das tun.«
»Du musst gar nichts. Nicht einmal jetzt.«
»Und wenn ich nie mehr einen Mann finde, der sich mit mir einlässt?«
»Vielleicht findest du einen Mann, der dich liebt und sich mit dir
einlässt.«
»Die Chancen sind nicht groÃ.« Sie trinkt die Dose leer. »Oder?«
»Ich weià es nicht. Aber ich hoffe es für dich.«
Sie deutet auf ihre leere Augenhöhle. »Wer könnte mich so lieben?«
»England«, ruft er, und im nächsten Moment ist sie bei ihm. Ich
sammle ihren und meinen Müll auf und werfe ihn in den halbvollen Abfallkorb,
der sich im Terminal befindet. Zwei Schritte. So weit komme ich, ehe ich noch
einmal umkehre, getrieben von einem uralten Sammlerinstinkt, den mir meine
Vorfahren als Ãberlebenshilfe vererbt haben. Mit beiden Händen durchwühle ich
den Müll nach irgendwelchen Dingen, die sich noch verwerten lassen. Aber da ist
nichts. Nur leere Verpackungen und altes Papier, bedruckt mit Worten, die ich
nicht lesen kann.
ZEIT: DAMALS
Einige Tage kommen und gehen. Daraus wird eine Woche. Nach
zwei Wochen habe ich immer noch nichts von Nick gehört. Jede Nacht nehme ich
den Hörer ab und wähle die Hälfte seiner Nummer, ehe ich wieder auflege.
Er weiÃ, wie er mich erreichen kann. Soll er doch anrufen!
Es ist eine alberne Spielregel, die ich nie unterschrieben habe und
an die ich jetzt nicht mehr glaube. Aber ich brauche sie zum Schutz gegen meine
eigentliche Befürchtung: dass Nick tot ist.
Ich nehme den Hörer ab, wähle vier der sieben Ziffern, lege auf.
Er wird mich anrufen.
ZEIT: JETZT
Ein Tag flieÃt in den nächsten über, und ich halte immer
noch
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