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Wie Blueten Am Fluss

Wie Blueten Am Fluss

Titel: Wie Blueten Am Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
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zu entsinnen als dem, der Hölle entronnen zu sein.
    Gage trat von der Laufplanke auf den gepflasterten Kai und wandte sich beiläufig um, um seinem
    gerade erworbenen Besitz hinunterzuhelfen, was Shemaine veranlaßte, einen vorsichtigen Blick auf
    die ihr dargebotene Hand zu werfen. Offensichtlich war sie erst kürzlich gewaschen worden; das
    brachte ihr schmerzlich zu Bewußtsein, wie abscheulich schmutzig ihre eigenen Hände waren.
    Andererseits hatte der Mann erst vor wenigen Sekunden ihre Hände begutachtet und mußte daher
    wissen, was ihn erwartete. Beschämt durch den scharfen Kontrast ergriff sie seine Hand nur
    widerstrebend und stellte dabei fest, daß sie Schwielen aufwies, die von harter Arbeit zeugten, und daß die Finger schlank und stark waren. Überraschenderweise fühlte sich die Haut jedoch glatt und weich an, als sei sie mit einem exotischen Öl oder einer Salbe behandelt worden.
    Kaum war Shemaine auf den Kai getreten, da hätte sie sich am liebsten wieder zurück auf die hölzerne
    Planke geflüchtet. Die Kälte der Steine unter ihren Füßen ließ in ihr den Wunsch nach einem
    wärmeren Standplatz überhandnehmen. Als wäre dies noch nicht schlimm genug, schienen ihr auch
    die Windböen, die durch die enge Gasse zwischen den an der Kaimauer vor Anker liegenden Schiffen
    und den nahe gelegenen Lagerhäusern peitschten, von besonderer Bosheit zu sein. Sie war schlecht
    gerüstet für das rauhe Wetter und diese Sturmwinde, die mit brutaler Gewalt ihre Lumpen
    durchdrangen. Ein Schutz dagegen war weit und breit nicht zu sehen. Sie konnte nur zittern und die
    Zähne zusammenbeißen, um sich gegen den eisigen Wind zu wappnen. Sogar ihre verzweifelten
    Bemühungen, ihre widerspenstigen Röcke zu bändigen, erwiesen sich als nutzlos. Der ausgefranste
    Saum schlug gegen ihre schlanken Waden und hob sich ab und zu bei einer Böe, als hätte er mutwillig
    eigenes Leben angenommen, um ihr keck einen Strich durch die Rechnung zu machen.
    Gage war kein Mann, der eine wohlgestaltete Fessel nicht bewundert hätte, und versagte sich auch
    jetzt nicht die Gelegenheit, dieser Neigung zu frönen. Es war immerhin beträchtliche Zeit vergangen,
    seit er sich das letzte Mal einen Blick auf ein schönes Bein gegönnt hatte. Dennoch hätte er nicht
    vermocht, zu sagen, was
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    seine Aufmerksamkeit mehr fesselte - die Eleganz der schlanken Waden oder die verräterischen roten
    Striemen, die von einer langen Zeit in Eisenfesseln kündeten. Dunkle Schwellungen entstellten die
    Haut um ihre Knöchel herum und deuteten auf eine nicht lange zurückliegende Verletzung hin. Unter
    seinem Blick bogen sich die feingliedrigen Zehen nach innen und brachten ihm damit das wachsende
    Unbehagen des Mädchens zu Bewußtsein. Stirnrunzelnd hob er den Kopf und begegnete dem
    wachsamen Blick grüner Augen.
    »Hast du keine Schuhe?« fragte er und hoffte inständig, daß er seine knappen Reserven nicht noch
    weiter anknabbern mußte, um ihr welche zu kaufen. Er rechnete finster in Gedanken nach, wie er das
    Geld dafür aufbringen sollte.
    Shemaine strich sich die zerzausten Haarsträhnen, die ihr vors Gesicht flogen, zurück und blickte
    vorsichtig zu ihrem neuen Herrn auf. Seine Miene war bedrohlich genug, um in ihr den Wunsch zu
    wecken, sich auf dem Absatz umzudrehen und fortzulaufen. »Es tut mir leid, Mr. Thornton«, murmelte
    sie mit einem unkontrollierbaren Beben in der Stimme, das ihr aus ganzer Seele verhaßt war. »Man hat
    mir kurz nach meiner Verhaftung in Newgate die Stiefel gestohlen.« Sie mußte sich erneut energisch
    ins Gedächtnis rufen, daß sie nichts getan hatte, was diese Verhaftung oder die Scham, die man ihr
    aufgezwungen hatte, rechtfertigte. Aber diese Wahrheit linderte ihre Demütigung ebensowenig wie die
    Nähe mehrerer alter Ehepaare, die gerade den Kai erreicht hatten. Trotz der unverhohlenen Neugier
    dieser Leute und dem peitschenden Wind, der sie wie ein Säbel aus Eis durchschnitt, erklärte sie mit
    stockender Stimme: »Ich kann Ihnen versichern, Sir... den Verlust meiner Stiefel habe ich aufrichtig
    bedauert. Sie waren einzigartig und sehr elegant... es hat meinen Vater eine stolze Summe gekostet,
    meine Initialen auf zwei winzige Goldanhänger gravieren zu lassen, die der Schuhmacher dann nur mit
    großer Mühe in Höhe der Fesseln an den Stiefeln befestigen konnte. Im Gefängnis schien es mir bei
    weitem klüger, ohne Protest auf die Stiefel zu verzichten. Jede der beiden Frauen, die sie von

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