Wie Blueten Am Fluss
würde, wenn sich erst einmal herumgesprochen hatte, daß sie eine Strafgefangene aus dem Gefängnis von
Newgate war. Angesichts der Schwatzhaftigkeit einer Mrs. Pettycomb ging Shemaine davon aus, daß
die Kunde davon bereits an jedes Ohr gedrungen war.
Als Gage den Wagen vor dem Laden für alles zum Stehen brachte, trat gerade eine kleine, weißhaarige
Frau heraus. Gage sprang vom Kutschbock, um das Pferd anzubinden; als er die ältere Frau auf sich
zukommen sah, tippte er höflich an die Krempe seines Hutes.
»Guten Morgen, Mrs. McGee.«
»Und einen recht guten Morgen auch Ihnen, Gage Thornton«, erwiderte sie fröhlich, bevor sie auf
ihren Stock gestützt näher kam. »Was bringt Sie an diesem schönen klaren Tag in unser freundliches
Dörfchen? Noch dazu in Begleitung einer hübschen jungen Fremden und Ihres prächtigen kleinen
Sohnes?«
Gage ging auf ihren scherzhaften Tonfall ein und stellte sogar seine erstaunliche Fähigkeit unter
Beweis, den irischen Tonfall nachzuahmen. »Ah, es war' wohl schwerlich möglich, in der ganzen
weiten Welt ein hübscheres Mädel zu finden als die Witwe Mary Margaret McGee.«
»Ha!« Die Frau warf mit ungläubiger Miene den Kopf in den
Nacken, aber ihre leuchtendblauen Augen funkelten vor Vergnügen. »Denken Sie etwa, eine gewitzte
Frau, wie ich es bin, wird Ihren durchsichtigen Lügen glauben, Sie gutaussehender Teufel?« fragte sie
erheitert. »Glauben Sie bloß nicht, ich war' wie... wie all die anderen wirrköpfigen Stütchen, denen
jedesmal das Wasser im Mund zusammenläuft, wenn sie Sie hier im Dorf erspähen. Aber es ist
wirklich freundlich von Ihnen, uns hier einen Besuch abzustatten, damit ich mit eigenen Augen sehen
kann, was Sie wieder angestellt haben. Mir sind da so wilde Gerüchte über Sie zu Ohren gekommen,
daß ich nah dran war, meine eigene Kutsche anspannen zu lassen, um zu Ihrer Hütte rauszufahren und
mich selbst davon zu überzeugen.« Ihr Blick ruhte nun auf Shemaine, und ganz als wöge sie in
Gedanken eine bestimmte Frage ab, nickte sie langsam. »Ja, die Klatschbasen sind ihr durchaus
gerecht geworden. Eine irische Strafgefangene, so habe ich von einer verdrossenen Seele gehört, die
schon fast den halben Tag in der Taverne sitzt und dem Whisky zuspricht.« Mit einer eleganten Geste
wies sie beiläufig auf das Lokal nebenan. Dann wurde ihr Grinsen breiter, und sie entblößte eine Reihe untadeliger, kleiner, weißer Zähne. »Wahrhaftig! Der Hornochse kann von Glück sagen, daß er ein gutes Stück kleiner ist als ich, sonst hätte ich ihm mit meinem Stock eine übergezogen, daß er eine so noble Rasse wie die Iren schmäht und uns Sumpfgewächse nennt... Als hätte dieser tolpatschige Stockfisch in ganz England keinen einzigen Sumpf gesehen!«
Unter dem unwiderstehlichen Humor Mrs. McGees schmolz Shemaines Furcht rasch dahin. Die
Witwe war unzweifelhaft eine angenehme Überraschung nach ihren beiden ersten Begegnungen mit
Bürgern des Weilers. Die Frau weckte in Shemaine ein wenig Hoffnung, daß es in dieser Gegend noch
andere, ähnlich freundliche Naturen geben konnte.
Mary Margaret befahl Gage schweigend, aber mit herrischer Geste, dem Mädchen zu helfen. »Was?
Haben Sie Ihre guten Manieren vergessen, mein vornehmer Herr? Oder denken Sie etwa, nur weil sie
Ihre Vertragsarbeiterin ist, brauchte sie keine Hilfe, um von einem Wagen herunterzusteigen?«
Gage, der unter der gutmütigen Stichelei der Frau einen Anflug
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von Ärger verspürte, drehte sich zur Kutsche um, blickte kurz hinauf und winkte Shemaine zu sich
heran. Als er die Hände um ihre schlanke Taille legte und sie schwungvoll auf den Gehsteig setzte,
bemerkte Shemaine, daß sein Gesicht unter der bronzenen Sonnenbräune errötet war, als schäme er
sich der Möglichkeit, sie könne ihn womöglich für rüde oder ungehobelt halten. Daß dieser ansonsten
so entschlossene Mann über einen derart jungenhaften Zug in seinem Wesen verfügte, entfachte in
Shemaines Herzen einen seltsamen Aufruhr. Offensichtlich war es ihm nicht unwichtig, was sie von
ihm hielt.
»Madam, darf ich Ihnen Miss Shemaine O'Hearn vorstellen«, erklärte Gage und schwenkte dabei mit
lässiger Gebärde seinen Hut. Galant deutete er auf die ältere Frau. »Shemaine, diese vornehme Dame
ist vielleicht das bemerkenswerteste Mitglied unserer kleinen Gemeinschaft, die unleugbar
würdevolle, mit einem sanftmütigen Temperament gesegnete Witwe Mrs. Mary Margaret McGee.«
»Ah, Sie
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