Wie Blüten im Wind: Roman (German Edition)
Mädchen war in gewisser Hinsicht auch eine Gefangene.
In der Aufnahme gab ihr eine andere Wärterin ein paar Unterlagen, einen schmalen braunen Umschlag und eine Tüte mit ihren persönlichen Kleidern.
»Sie können sich dort umziehen.« Sie zeigte zu einer Tür am Ende des Flurs.
Lexi ging dorthin und schloss die Tür hinter sich. Allein zog sie sich ihre abgetragene, ausgebleichte Gefängniskluft und die Unterwäsche aus.
In der Tüte entdeckte sie die schwarze Hose und die weiße Bluse, die sie vor Jahren beim Prozess getragen hatte, genau wie ihren hautfarbenen BH , den schwarzen Schlüpfer und die Patchworktasche aus Jeans. Schwarze Kniestrümpfe und billige, flache schwarze Schuhe vervollständigten den Look der alten – oder der jungen – Lexi.
Sorgfältig zog sie sich an und genoss die weiche Baumwolle auf ihrer trockenen Haut. Die Hose war ihr mittlerweile zu groß und hing an ihren vorstehenden Hüftknochen. Auch der BH war zu groß geworden. Sie hatte stundenlang im Fitnessstudio trainiert, um sich zu beschäftigen und stark zu werden. Daher waren ihre Gliedmaßen jetzt sehnig und ihre Brüste mädchenhaft straff.
Sie knöpfte die schwarze Hose zu, stopfte sich die Bluse in den Bund und drehte sich zum Spiegel um. Jahrelang hatte sie sich vorgestellt, wie sie sich an diesem Tag fühlen, wie sie sich freuen würde. Aber als sie jetzt in den Spiegel blickte, sah sie nur eine müde, zähe Version ihres alten Selbst.
Sie war erwachsen geworden. Genauer gesagt sah sie mit ihrer fahlen Haut, den hervortretenden Wangenknochen und den blassen Lippen mindestens zehn Jahre älter aus, als sie war. Ihr schwarzes Haar war vor Jahren vom Gefängnisfriseur geschnitten worden. Er hatte es in sieben Minuten um dreißig Zentimeter gekürzt. Der Kurzhaarschnitt war mittlerweile herausgewachsen, so dass weiche Locken ihr eckiges Gesicht umrahmten.
Sie öffnete den Umschlag und fand einen abgelaufenen Führerschein mit dem Foto eines jungen Mädchens darin, eine halbleere Kaugummipackung, eine billige Armbanduhr und ihren Freundschaftsring von Zach.
Ein Klopfen riss sie aus ihrer Versunkenheit.
»Alles in Ordnung, Baill?«
Daraufhin steckte sie alles, inklusive Ring, in ihre Tasche, warf Tüte und Umschlag in den Mülleimer und verließ das Zimmer.
In der Verwaltung unterschrieb sie etliche Formulare und nahm dann die zweihundert Dollar Startgeld, die ihr zustanden. Allerdings konnte sie sich nicht vorstellen, wie sie mit zweihundert Dollar und einem abgelaufenen Führerschein ein neues Leben anfangen sollte.
Sie folgte allen Anweisungen und tat, was man von ihr verlangte, bis hinter ihr dröhnend eine Tür ins Schloss fiel und sie plötzlich im Freien stand. An der frischen Luft.
Es war ein strahlender Sommernachmittag.
Sie hob ihr Gesicht zum Himmel und spürte die Wärme der Sonne auf ihren Wangen. Sie wusste, auf sie wartete der Wagen, der sie zur nächsten Bushaltestelle bringen würde, aber sie konnte sich nicht rühren. Es fühlte sich erstaunlich gut an, einfach nur dazustehen, ohne Gitter oder Stacheldraht, die ihren Raum begrenzten, ohne Frauen, die sie anstarrten. Ohne …
»Lexi?«
Scot Jacobs kam lächelnd auf sie zu. Zwar war auch er älter geworden – er trug sein Haar jetzt konservativ kurz und hatte eine Brille –, hatte sich ansonsten aber nicht verändert. Möglicherweise trug er sogar immer noch denselben Anzug. »Ich dachte, es sollte Sie jemand erwarten.«
Lexi wusste nicht, wie sie ihre Dankbarkeit ausdrücken sollte. Nachdem sie so viele Jahre ihre Gefühle zurückgehalten hatte, war es nicht leicht, sie herauszulassen. »Danke.«
Einen Augenblick lang sahen sie sich an, dann sagte er: »Tja, dann wollen wir mal«, und ging zu seinem Wagen.
Automatisch folgte sie ihm.
Er blieb stehen, damit sie zu ihm aufschließen konnte.
»Tut mir leid«, murmelte sie. Sie war jetzt kein Häftling mehr. »Sind wohl alte Gewohnheiten.«
Jetzt ging sie neben ihm zu dem blauen Minivan auf dem Parkplatz.
»Stören Sie sich nicht an dem Müll hier drinnen«, sagte er und öffnete die Beifahrertür. »Dies ist der Wagen meiner Frau, und sie räumt nie was auf, weil sie behauptet, sie wüsste nicht, was sie noch brauchen könnte.«
Lexi stieg in den Wagen und starrte auf das einschüchternde graue Gefängnisgebäude.
Dann schnallte sie sich an. »Es ist sehr nett von Ihnen, mich abzuholen, Mr Jacobs.«
»Nennen Sie mich doch Scot, bitte«, erwiderte er, bog auf die Straße und entfernte sich
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