Wie ich nach Santiago de Compostela ging und ganz woanders ankam
Caminowelt getrennt sind. Durch diese unsichtbare Grenze, die Eric heute durchbrochen hat. Wir sind in einer Sonderwelt außerhalb des Alltags, sind eine Gemeinschaft, die für ein paar Wochen aus dem Lebensgetöse ausgestiegen ist. In eine andere Realität, in der andere Regeln gelten.
In der Nacht weckt mich Türenklappen und Klopfen. Ein bleiches Gespenst, dass sich vor Schüttelfrost kaum auf den Beinen halten kann, kommt fieberglühend von der Toilette gewankt. „Hilf mir bitte, ich muss mich dauernd übergeben und jetzt ist mir schrecklich kalt, gib mir deinen Schlafsack.“ „Ach du Armer.“ Gut, dass ich Medizin für solche Fälle dabei habe. „Komm, schluck“, und dann bring ich ihn ins Bett, deck ihn warm zu, und bin froh einigermaßen laufen zu können, weil ich mich jetzt revanchieren kann.
Am Morgen geht es seinem Magen besser, doch er hat hohes Fieber und bekommt trotz Gegenwehr von mir Wadenwickel verpasst. Ich fühle mich, als würden wir uns 100 Jahre kennen, bitte die Wirtin um heißes Wasser für Magentee, der tief in meinem Rucksack eingegraben ist, seit ich ihn irgendwo versehentlich gekauft habe, und schaffe es, ihr mit Zeichensprache zu erklären, dass Eric das Zimmer noch braucht. Mir geht es besser, meine Medikamente beginnen zu wirken und die Schmerzen sind weniger geworden. Ich kann sogar schon bis zur Apotheke gehen, ganz langsam. Dann schläft der Patient, und ich ruhe mich auch aus und kann danach den nächsten Gang wagen. Zur Tienda um die Ecke, weil er unbedingt Joghurt möchte. Und dann schlafe ich ein bisschen und schaue wieder nach ihm. Sein Fieber ist anscheinend nicht niedriger, doch er scheint geistig ganz klar zu sein, als er mich bittet: „Beim Schuster gibt es Tim-und-Struppi-Hefte. Kannst du so weit gehen, um mir eins zu kaufen? Ich habe sie als Kind immer gelesen, wenn ich krank war.“
Na klar, Mami macht das gern, dann kann ich auch Mansillas erkunden, es ist so hübsch. Überall sind Storchennester auf den Kirchtürmen, und einer der halbverfallenen Wehrtürme hat eine Treppe, die ich ganz vorsichtig hochsteige. Da liegt die verwinkelte, schiefergedeckte Stadt unter mir, in ihrer mächtigen, von Stadttoren durchbrochenen Mauer. Zwischen den kleinen Straßen werkeln Menschen in ihren Obst- und Gemüsegärten, alles scheint Idylle, schöne, heile Welt. Da sitze ich und schaue über den Alltag anderer und es geht meiner Seele gut. Ich fühle mich auf einem neuen Weg, weil ich in den letzten Tagen das Annehmen gelernt habe und Verantwortung für mich abgeben konnte. Nun muss ich nur noch mehr auf mich achten.
Die Wirtin hat ihre Zurückhaltung abgelegt und lächelt immer häufiger. Mit ihren traurigen Augen. Als würde sie gern an meiner Stelle sein. Unterwegs und frei. Doch sie hat nicht das Problem, dass ich jetzt lösen muss: Wir müssen morgen unsere Zimmer räumen, weil sie vermietet sind. Was nun?
Eric sieht da keine Schwierigkeit. „Ich bin morgen wieder gesund und kann nach León laufen. Die 19 Kilometer werden mir nichts ausmachen und du nimmst den Bus. Der fährt an der Brücke gleich hier vor der Tür ab, und in León wird es für dich nicht schwer sein, eine neue Unterkunft zu finden.“ Nur kurz versuche ich ihn von seiner verrückten Idee abzubringen: „Du redest im Fieberwahn. Wie willst du morgen laufen? Aber tu, was du willst.“ Ich werde mit dem Bus fahren und noch ein paar Tage in León pausieren. Der Arzt hat von zwei Wochen gesprochen, doch so lange wird es hoffentlich nicht dauern, ich bin da ganz zuversichtlich. Und überdies warte ich beharrlich auf ein Genesungswunder.
Welch ein Tag!
Mansillas de las Mulas — León per Bus
„Du willst also wirklich laufen?“ Eric steht tatsächlich mit seinem gepackten Rucksack vor mir. „Warum nicht? Ich habe kein Fieber mehr. Dein Bus fährt in einer Stunde, wir haben noch Zeit zum Frühstücken.“
Eine Stunde nur noch, und in meinem Zimmer sieht es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Wo kommen bloß all die Sachen her? Schnell die Schienbeine bandagiert und die Klamotten in den Rucksack, und dann runter und raus. Geld und Schlüssel legen wir auf die Theke, weil niemand da ist, offenbar schlafen alle noch, und dann ziehen wir die Tür hinter uns zu und gehen zur Pastelería am Ende der Straße. Aber ich habe keine Ruhe, weil ich nicht weiß, ob und, wann wieder ein Bus fährt, will sicher sein und diesen nicht versäumen. Eric hat die gleichen Gedanken: „Treffen wir uns in León? Um
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