Wie ich nach Santiago de Compostela ging und ganz woanders ankam
ist. Und überhaupt sind Frauen schwierig und ich als Skorpionfrau unerträglich, und meine vielen Probleme kann kein Mensch aushalten. Ich sitze und höre mir das an und nehme es ernst.
Er hat Recht, ich bin eine Zumutung. Fühle mich klein, minderwertig und schuldig, und wünsche mir, dass mir verziehen wird, dass ich so wenig tauge.
Klapp, die Falle ist zu — ich bin da, wo ich immer wieder lande, merke aber noch nichts, bleibe in der schlechten Atmosphäre, bis ein kleiner Funken in meinem Kopf leuchtet und mich rettet: Sitzt das Wichtige auf deinem Stuhl oder dir gegenüber? Wo bin ich? Will ich bei diesem mies gelaunten Mann sein, bis mir die Luftwegbleibt? Nee. Tschüs. „Ich geh in die Kathedrale, möchte sie bei Tageslicht sehen“, lüge ich ihn an, verlasse die Situation und suche mir ein Plätzchen zum Alleinsein.
Warum kann ich nicht sagen: „Du gehst mir auf die Nerven, ich hau ab?“ Warum bleibe ich sitzen und lasse mich so klein falten? Bis ich so traurig bin wie jetzt, obwohl ich zu dieser fröhlichen Menschenmenge gehören möchte?
Ich weiß die Antwort nicht, und sie fällt mir auch in der Stille von San Isidoro nicht ein, in dieser kühlen alten Kirche. Dort sitze ich und weine, weil ich spüre, dass gerade etwas Schönes kaputt geht. Bis meine Traurigkeit nachlässt und ich zur Fiesta zurückgehe. Ich will mir den Tag nicht verderben. Doch als ich Eric wieder treffe und er mir stolz erzählt, dass er den Nachmittag damit zugebracht hat, sich im Internet über meine Krankheit zu informieren und mir eine Shiatsu-Behandlung anbietet, sage ich dankbar Ja.
Klapp, die nächste Falle ist zu: Wenn du nur nett zu mir bist, ist alles gut.
Statt auf der Straße zu feiern, verbringe ich den Nachmittag mit Eric, versuche Verständnis für ihn zu haben und freue mich über seine Fürsorge.
Bis wir wieder streiten. Wegen nichts. Und er mich bösartig und aggressiv beschimpft. Mir fehlen die Vokabeln für eine angemessene Erwiderung, und vielleicht will ich auch gar nichts sagen, beiße nur die Zähne zusammen, schlucke alles hinunter und übergehe den Vorfall. Spiele Normalität, weil wir jetzt mit Fred und Nicole verabredet sind, langjährigen Eheleuten, die eine neue Existenz als Sport- und Tourismusveranstalter auf La Réunion planen. Sie haben ihre Jobs gekündigt, ihr Haus verkauft, die Habe verschifft, die Tochter für einige Wochen bei den Großeltern gelassen und gehen nun nach Santiago, um Gottes Segen für ihre Zukunft zu erbitten. Die beiden erzählen offen von sich und ihren Wünschen, sind liebevoll miteinander und wirken so beneidenswert glücklich, dass es mir mein Herz rührt. „Unser Neuanfang wird gelingen, weil wir einander vertrauen und uns aufeinander verlassen können.“
Ich bin sicher, dass sie es schaffen werden. Und habe Mitleid mit Eric, der beim Zuhören immer stiller und bedrückter wird, weil er auch so was will: Zukunft. Pläne. Beziehung. Und nicht weiß, was und mit wem.
Er tut mir leid, wirkt so schrecklich verlassen und einsam.
Ich lasse die drei allein, bin erschöpft, kann die Konzentration beim Verstehen und Reden nicht mehr aufbringen, friere. Es ist plötzlich kalt geworden, aber es ist auch schon 23 Uhr. Was für eine schreckliche, gute Nacht. Meine Schienbeine tun weh und ich wälze mich herum, träume schlecht, erwache, schlafe wieder ein, erwache wieder und habe das deutliche Gefühl: aufwachen. Hinsehen.
Hinsehen? Wohin? Langsam formen sich meine Gedanken, steigen Bilder in mir auf, werde ich immer klarer. Mir ist, als hätte ich in einen Spiegel geschaut.
Ja, das bin ja ich, genauso bin ich auch!
Was ich mit Eric erlebt habe, seine Launen und Kritik, war genau das, was andere durch mich erleben. Genau so handle ich an vermeintlich Unterlegenen: Ich schaue nicht auf meine Schwächen, sondern auf die der anderen. Sie sollen sich ändern und sind für meine Stimmung verantwortlich. Ich fordere unnachsichtig Anstrengung von ihnen, damit es für mich leichter wird; will Mittelpunkt sein, bin superempfindlich und habe Angst vor Bewertung. Und um zu strafen, gehe ich auf Distanz.
Mir graust.
Das bedeutet, dass ich gestern Opfer war, wo ich sonst Täterin bin. Oh, mein Gott.
Ich zwinge mich, ganz wach zu werden, um aufzuschreiben was ich am Morgen vergessen haben könnte, und zu jedem der Punkte, die mich verletzt haben, fallen mir von mir begangene Kränkungen an meinen Mitmenschen ein.
Völlig aufgewühlt versuche ich wieder einzuschlafen, schrecke
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