Wie Tau Auf Meiner Haut
Gefühl der Unsicherheit würde sie noch ein, zwei
Tage lang aushalten können, dachte Grace. Was auch immer Harmony ihr
beibringen wollte, wäre den Stress sicherlich wert. »Also gut, dann bleibe ich
noch bis zum Wochenende. «
Harmony nickte nur knapp, aber Grace spürte, wie zufrieden sie über ihre
Entscheidung war. Am Abend blätterte Grace gelangweilt durch einen Stapel
Zeitungen, während Harmony in ihrem Wok Köstlichkeiten zubereitete. Harmony
trank morgens am Küchentisch eine große Tasse Kaffee und las dabei die
Zeitung. Danach warf sie sie nicht in den Mülleimer, sondern ließ sie auf einem
Küchenstuhl liegen.
Grace hatte so lange keine Zeitung mehr gelesen oder Nachrichten gehört, dass
sie über die Ereignisse gar nicht mehr auf dem laufenden war. Die Überschriften
kamen ihr merkwürdig vor, als ob sie in eine unbekannte Vergangenheit spähte.
Sie hatte vielleicht den halben Stapel durchgeblättert, als eine grobkörnige
Fotografie ihre Aufmerksamkeit erregte. Ihr stockte der Atem, ihre Lungen
krampften sich zusammen, und ihre Ohren begannen zu rauschen. Parrish.
Parrish war einer der Männer, die auf dem Foto abgebildet waren.
Weit entfernt hörte sie jemanden etwas sagen, dann spürte sie eine Hand im
Nacken, die ihren Kopf bis auf die Knie nach unten drückte. Langsam
verflüchtigte sich das Rauschen, und ihre Lungen konnten wieder pumpen. »Ist
schon wieder alles in Ordnung«, presste sie gegen den Stoff ihrer Hosen hervor.
»Ach ja? Da hättest du mich aber glatt hereinlegen können«, erwiderte Harmony
spöttisch. Dennoch lockerte sie ihren Griff und zog die Zeitung aus Graces
vollkommen tauben Fingern. »Lass mal sehen. Was hast du denn gelesen, das
dich so aus der Bahn geworfen hat? >Friedensgespräche wieder aufgenommen<
? Wohl kaum. Wie wäre es hiermit: >Schmiergelder im öffentlichen Haushalt
kosten die Stadt Millionen<. Gut, das bringt mich auch auf die Palme, aber
deswegen würde ich nicht in Ohnmacht fallen. Vielleicht dieses: >Ehefrau eines
Industriellen umgekommen<. Ein Foto von dem trauernden Ehemann ist auch
abgebildet, damit die Leser sich angesprochen fühlen. Ja, das sieht schon eher
nach einer Nachricht aus, die dir so zusetzen würde. « Sie knallte die Zeitung auf
den Küchentisch. »Nun sag schon, welchen der Typen kennst du denn? «
Schwer atmend blickte Grace auf das Foto. Parrishs gutaussehendes Gesicht zu
sehen erschütterte sie noch immer. Jetzt erst bemerkte sie, dass auch noch
andere Menschen darauf abgebildet waren. Zunächst einmal der vom Schmerz
gezeichnete Ehemann. Neben ihm stand ein Mann, der ihr auch irgendwie
bekannt vorkam. Ein Blick auf die Bildunterschrift identifizierte den Mann als
Bayard »Skip« Saunders, einen wohlhabenden Industriellen, daneben Senator
Trikoris. Drei Männer waren im Hintergrund zu sehen, unter anderem eben
Parrish. Von ihnen wurde jedoch keiner namentlich erwähnt. Parrishs
Gesichtsausdruck war angemessen erschüttert. So wie sie ihn jedoch kennen
gelernt hatte, traute sie dem Schein nicht.
Hastig überflog sie die kurze Nachricht. Calla Saunders war offenbar vom Balkon
ihres Penthauses in den Tod gestürzt. Es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass
noch weitere Personen ihre Finger im Spiel gehabt hatten. Einer von Frau
Saunders hochhackigen Schuhen, bei dem der Absatz abgebrochen war, hatte
man auf dem Balkon gefunden. Die Polizei vermutete, dass sie das Gleichgewicht
verloren hatte, als der Absatz abgebrochen war, und dann über die Brüstung
gefallen war. Auf ihrem Abendkleid hatte man ein paar Farbspuren der weißen
Brüstung gefunden. Allem Anschein nach war sie ganz allein auf dem Balkon
gewesen.
Die Polizei kannte Parrish Sawyer aber nicht so, wie sie ihn kennen gelernt hatte,
dachte Grace zitternd. Wenn er sich auch nur im Umkreis eines Todesfalls
befand, dann glaubte sie nicht länger an ein Versehen.
Sie hatte ganz vergessen, wie gut er aussah. In ihrer Vorstellung hatte er etwas
Diabolisches, etwas, das seinen bösen Kern widerspiegelte. Das Foto zeigte seine
ebenmäßigen, scharf gemeißelten Gesichtszüge und seinen schlanken,
sportlichen Körper. Wie gewohnt war er tadellos gekleidet. Er machte den
äußerst gewandten und gediegenen Eindruck eines bis zu den Fingerspitzen
gepflegten Mannes.
Genauso freundlich hatte er auch in dem Moment ausgesehen, als er Ford in den
Kopf geschossen hatte. Er war in Chicago. Sie schaute noch mal auf das
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