Wiedersehen in Hannesford Court - Roman
nahe, nahe genug, um ihren Duft zu riechen. Im Feuerschein wirkten ihre Züge weicher, beinahe abgeklärt. Sogar schön.
»Und in mancher Hinsicht war es so einfach , nicht wahr?«, fuhr sie fort. »Wir brauchten nicht lange zu überlegen. Wissen Sie noch, was Reggie gesagt hat?« Sie senkte den Blick. »Dass er in Frankreich glücklicher war als je in seinem Leben? In gewisser Weise kann ich ihn verstehen.«
Sie sprach sehr leise, als würde sie sich dessen schämen, als hätte es ihr lange auf der Seele gelegen.
Ich wartete ab und sagte nichts, und dann erzählte Anne, zuerst noch zögerlich, von dem Moment, in dem ihre Entscheidung gereift war, nicht nach Hannesford zurückzukehren. Es war im Frühjahr 1918 in einem französischen Lazarett gewesen, als sie zum ersten Mal glaubte, der Krieg könne verloren gehen. Der Feind stieß so rasch vor, dass ihr Lazarett binnen weniger Tage an die vorderste Front, fast in Reichweite der Geschütze, gerückt war.
»Und die Verwundeten … So etwas hatte ich noch nie gesehen. Wir wurden schlicht und einfach überrollt. Im Grunde waren wir nur noch ein Feldlazarett. Wir bemühten uns, die Männer so weit herzustellen, dass sie mit etwas Glück überleben würden, und sie in die Züge zu verfrachten. Von Pflege konnte keine Rede mehr sein. Wir konnten nicht alle behandeln. Wir mussten entscheiden, wen wir retteten. Der hier in den Zug, der zum Verbinden, der zu den Chirurgen. Bei dem hat es keinen Sinn. «
Sie hielt inne, die Augen noch immer aufs Feuer gerichtet. Als ich sie so müde und erschöpft sah, hätte ich ihr am liebsten die Hand auf die Schulter gelegt.
»Aber ich habe nie gezögert«, fuhr sie fort. »Für Bedenken und Zweifel blieb kein Platz. Es gab nur entweder – oder. Leben oder Tod. Keine Grauschattierungen. Ich hatte so viel Energie, als könnte ich ewig weitermachen. Ich hatte tagelang nicht richtig geschlafen, und doch war mir, als hätte ich alles unter Kontrolle. Ich wusste, dass ich gut arbeitete. Dass ich etwas bewirken konnte.
Und dann traf mich die Erkenntnis. Inmitten des Gemetzels. Ich kämpfte mit letzter Kraft in einer Schlacht, die ich nicht gewinnen konnte – und wissen Sie was, Tom? Zum ersten Mal im Leben fühlte ich mich wirklich frei. Das war ein furchtbarer Schock. Es war, als hätte ich vorher nie richtiggelebt, als hätte ich mich nur mit der Strömung treiben lassen.«
Sie sah mich an, und etwas in ihren Augen verriet mir, dass sie um Absolution bat.
»Ist das nicht unsäglich? Inmitten dieses ganzen furchtbaren Leidens mich selbst zu finden?«
Und als ich sie ansah, ihre leicht verschleierten Augen, die mich forschend betrachteten, überkam mich eine Welle der Zärtlichkeit, wie ich sie noch nie empfunden hatte. Ich wollte die Hand ausstrecken und ihre Wange streicheln, die Erinnerungen wegwischen.
»Nicht unsäglich«, sagte ich. »Es war Teil des Überlebens.«
Wie zur Antwort legte sie ihre Hand auf meine. Ich spürte den Druck ihrer Finger. In ihrem Blick lag etwas, das ich nicht deuten konnte. Doch sie wandte sich wieder zum Feuer, bevor ich etwas sagen konnte.
»Als ich in jener Nacht endlich allein war, habe ich geweint. Ich weiß nicht, wieso. Ich hatte vorher nie geweint.«
»Erschöpfung«, sagte ich, obwohl ich wusste, dass es Trauer gewesen war. Nicht um ihre Patienten. Um sich selbst. Ich verschwieg, dass es Momente gegeben hatte, wenn die Granaten einschlugen und die Verluste erschreckend hoch waren, in denen auch ich geweint hatte. Nicht sofort. Danach, hinter den Linien, wenn ich allein war. Es war die Trauer um den jungen Mann, den ich verloren hatte, der beim Anblick des Todes noch zusammengezuckt war.
Eine Kohle im Kamin rollte aus den Flammen, und wir fuhren beide zusammen und griffen gleichzeitig zum Schürhaken.
»Nach Ihnen«, flüsterte ich. Unsere Gesichter waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt.
Sie beugte sich vor und schob die Kohle zurück an Ort und Stelle. Der Drang, Anne nach hinten zu ziehen, ganz nah an mich, war beinahe unerträglich.
Doch dann fiel mir ein, wo wir uns befanden. Ich dachte anden Pfarrer, der über uns schlief. Anne musste meine Bewegung gespürt haben.
»Was ist los?« Sie betrachtete mein Gesicht.
»Ich sollte mich auf den Weg machen.«
Sie richtete sich auf und rückte von mir weg. »Ja, natürlich.«
Dann standen wir beide auf, irgendwie unbeholfen.
»Danke, dass Sie mich nach Hause gebracht haben.«
»Es war mir ein Vergnügen.«
Unsere Blicke
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